Wir fallen tief in die Nacht

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„Leute, ich kann nicht mehr...lasst uns bitte für heute aufhören..." murmelt Johannes und sieht verzweifelt zu seinen drei Bandkollegen. Nowi sieht ihn traurig an und nickt nach einem kurzen Moment. Stefanie schluckt und versucht ihre Tränen zu unterdrücken, doch als ihr Blick zu Thomas fällt, der seine Lippen vor Wut zusammenpresst und auf den Boden starrt, kann sie einen Schluchzer nicht mehr aufhalten. „Scheiße Leute...was ist das hier?" stammelt sie unter Tränen. Den ganzen Tag sitzen sie schon im Proberaum, doch es will einfach kein neuer Song entstehen. Sie drehen sich nur im Kreis, die Melodien stimmen nicht, der Text will nicht aufs Papier. Und diesen Tag erleben die vier immer und immer wieder und das seit Wochen. „Vielleicht brauchen wir einfach eine Pause" flüstert Nowi und merkt, wie auch sein Kloß im Hals immer größer wird. Keiner der vier will aufgeben, alle versuchen sich an irgendetwas zu klammern, doch es macht im Moment einfach keinen Sinn. Es geht nicht...und keiner will das so richtig akzeptieren. Mit zitternden Händen legt Johannes seinen Bass zur Seite und auch Nowi steht langsam vom Schlagzeug auf und sucht seine Sachen zusammen. Thomas sitzt immer noch mit wütendem Blick auf seinem Platz und rührt sich nicht. Seine Fingerknöchel treten ganz weiß hervor, so fest umklammert er seine Gitarre. Als hätte er Angst, jemand würde sie ihm aus den Händen reißen. „Sollen wir noch...?" beginnt Johannes und deutet mit dem Kopf in Richtung seines Bruders, doch Stefanie schüttelt den Kopf. Sie begleitet die beiden zur Tür und murmelt dort „Ich mach das schon, geht nur...". Johannes und Nowi ziehen sie in eine feste Umarmung, bevor sie die Tür öffnen und nach draußen verschwinden.

Stefanie atmet tief durch und strafft ihre Schultern, bevor sie zu Thomas zurück geht, der sich immer noch nicht bewegt hat. Sie stellt sich hinter ihn und legt ihre Hände auf seine Schultern. Sie bemerkt, wie er unter ihrer Berührung zusammenzuckt, was ihr Herz in tausend Stücke zerreißt. Sie hat ihn noch nie so erlebt, so verbissen, so wütend und gleichzeitig so komplett hilflos. „Thomas" flüstert sie und vergräbt ihr Gesicht in seinen Haaren. Sie bemerkt, wie er zu zittern beginnt. „Bitte gib mir die Gitarre" sagt sie leise, während sie schon danach greift. Einen kurzen Moment klammert er sich noch fester daran, lässt sie dann aber los. Stefanie stellt die Gitarre in den Gitarrenständer und setzt sich dann auf Thomas Schoß. Sie hebt sein Gesicht an, dass er sie ansehen muss. Sofort sammeln sich wieder Tränen in ihren Augen, als sie seinen Blick sieht, der pure Verzweiflung ausstrahlt. Sie zieht seinen Kopf an ihre Brust und als Thomas den Duft seiner Freundin einatmet, lässt er endlich los und beginnt hemmungslos zu schluchzen. Sofort fließen auch über Stefanies Wangen die Tränen und eine Weile ist nur das Weinen der beiden im Raum zu hören. Als sich beide etwas beruhigt haben, treffen sich ihre hilflosen Blicke. „Was ist bloß passiert, dass wir hier so sitzen? Ist das das Ende von unserem Märchen?" fragt Thomas mit zitternder Stimme. „Das darf es nicht sein...nicht so..." erwidert Stefanie und schluckt tapfer die Tränen hinunter, die sofort wieder aufsteigen wollen. Irgendjemand muss hier kämpfen. Und nachdem Thomas gerade nicht dazu in der Lage ist, muss sie diejenige sein. Sie schließt einen Moment die Augen, dann hat sie eine Idee. „Thomas, wieso hast du angefangen Gitarre zu spielen und später dann Songs zu schreiben?" fragt sie ihren Freund, der sie überrascht ansieht. „Was? Was ist denn das jetzt für eine Frage?" antwortet er verwirrt. „Bitte beantworte sie mir einfach" sagt Stefanie mit Nachdruck. „Naja...aus demselben Grund, wieso wir diese Band gegründet haben...weil wir es geliebt haben Musik zu machen, Musik zu schreiben...Musik war immer mein...äh unser Leben..." erwidert er.

Stefanie legt eine Hand an seine Wange. „Und wieso sprichst du in der Vergangenheit?" flüstert sie mit Tränen in den Augen. „Ich...ähm..." da wird es Thomas erst richtig bewusst „Scheiße...ich...ich liebe die Musik doch immer noch..." stammelt er, doch Stefanie schüttelt den Kopf. „Das tust du nicht, keiner von uns vier. Wir schreiben Songs, weil wir es müssen...weil es von uns erwartet wird...und wie toll das klappt sehen wir ja...nämlich gar nicht!" „Aber...wie...das...nein..." „Thomas...so wie jetzt kann es auf keinen Fall weiter gehen. Aber bevor wir irgendetwas an unserer Situation ändern können, müssen wir zu allererst unsere Liebe zur Musik wiederfinden!" erklärt Stefanie, während sie mit ihrem Daumen zärtlich über seine Wange streicht. Thomas sieht sie nur fragend an, doch der winzige Hoffnungsschimmer in den Augen seiner Freundin, verrät ihm, dass sie eine Idee hat. „Wir fahren jetzt erstmal nach Hause, gehen duschen, machen uns fertig und dann...wirst du schon sehen, wo's hingeht" sagt sie und zwinkert ihm zu. Unterwegs nehmen die beiden noch etwas zu essen mit. Drei Stunden später stehen sie dann fertig an ihrer Wohnungstüre. Beide in einer engen schwarzen Jeans, Stefanie mit einem weißen Top und Jeansjacke, Thomas mit schwarzem T-Shirt und schwarzer Lederjacke. Er hat das angezogen, was Stefanie ihm rausgelegt hat. „Und jetzt?" fragt er immer noch ahnungslos, was sie mit ihm vorhat. Ein leichtes Lächeln umspielt Stefanies Lippen. „Jetzt gehen wir feiern" flüstert sie, drückt ihm einen sanften Kuss auf die Lippen und öffnet die Tür. Thomas schaut ihr mit großen Augen hinterher, als sie durch die Tür marschiert. Stefanie bemerkt sein Zögern, doch sie nimmt ihn einfach bei der Hand und zieht ihn hinter sich nach. Die beiden spazieren schweigend durch die dunklen Straßen. Kurz bevor sie bei dem Club ankommen, zu dem Stefanie will, bleibt Thomas stehen. „Steff...ist das echt dein Ernst? Wir haben so viele Probleme...Was war das bitte für ein Tag heute? Zehn Stunden schwer und grau wie die Fassadenfarben der DDR. Wir haben überhaupt nichts zusammengebracht...und alles klang schief, verschlissen und kühl" murmelt er.

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt