Müde und leise seufzend lässt sich Nowi auf die Couch in seinem Wohnzimmer fallen. Er schließt die Augen und merkt gar nicht, dass jemand zu ihm tritt. Erst als er die zarten Hände seiner Freundin auf seinen Schultern spürt, legt er den Kopf nach hinten und schenkt ihr ein leichtes Lächeln. Marie drückt ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Du siehst müde aus" flüstert sie besorgt und fährt mit ihrem Daumen die dunklen Ringe unter seinen Augen nach. „Ach, es geht schon" versucht Nowi sie zu beruhigen, doch Marie kennt ihn schon zu lange, um ihm das zu glauben. Schon zu Schulzeiten haben sie sich kennengelernt. Er war und ist ihre erste große Liebe. Als Nowi mit seinen drei Bandkollegen 2003 nach Berlin gezogen war, war sie zuerst in Bautzen geblieben, doch sie hat es nicht lange ohne ihn ausgehalten. Schon nach einem Jahr ist sie ebenfalls nach Berlin gezogen und lebt jetzt mit ihm in einer gemeinsamen Wohnung, auch wenn er so gut wie nie da ist. Es ist Anfang September 2005 und Nowi ist eben von zwei Konzerten aus Hamburg zurückgekehrt. Marie hat aufgehört zu zählen, wie viele Konzerte die Band dieses Jahr schon gespielt hat – eindeutig zu viele. „Ich weiß ja kaum noch, wie du aussiehst" sagt Marie leise, während sie um die Couch herumgeht und sich neben ihren Freund kuschelt. Dieser zieht sie in seine Arme und küsst sie zärtlich auf die Schläfe. „Jetzt bin ich ja eine Woche zuhause, bis das nächste Konzert ansteht!" erwidert Nowi lächelnd und vergräbt sein Gesicht in ihren langen, braunen Haaren. „Ich hoff, du kannst dich ein bisschen erholen" murmelt Marie an seiner Brust. Und obwohl sie sich Sorgen macht, weil er momentan kaum zur Ruhe kommt, genießt sie seine Nähe, die sie in den letzten Monaten so sehr vermisst hat.
Als Marie am nächsten Nachmittag von der Arbeit nachhause kommt, findet sie einen Zettel am Küchentisch. >> Bin im Proberaum! Versuche zum Abendessen zurück zu sein. Kuss << Marie seufzt. Die vier gönnen sich wohl nie eine Pause. Sie versteht das – als junge Newcomer Band muss man sich verdammt anstrengen, um in diesem musikalischen Haifischbecken zu überleben. Trotzdem wünscht sie sich, die vier würden einmal einen Gang zurückschalten. Nicht nur Nowi bedeutet ihr was, Stefanie ist in den letzten Jahren zu einer guten Freundin geworden und auch die beiden Brüder liegen ihr sehr am Herzen. Die vier muss man einfach gern haben, denkt sie sich. Als sie die übrigen Papiere am Küchentisch zur Seite räumen will, fällt ihr ein Zettel ins Auge, den Nowi anscheinend heute Morgen geschrieben hat, bevor er los ist. „Meine Augen suchen Wasser in der Wüste. Meine Füße tragen lange schon den Durst. Ich bin gefallen und blieb liegen, stand auf und wollte siegen, denn ich schmeck das Meer ist nicht mehr weit" liest Marie leise. Ein Kloß bildet sich in ihrem Hals. Diese Worte bestätigen ihr genau das, was sie schon die ganze Zeit fühlt: Nowi ist ausgelaugt, braucht dringend Erholung...und trotzdem steht er auf und macht weiter, weil er seine Freunde nicht im Stich lassen will. Doch der letzte Teil bringt Marie auf eine Idee. Schnell holt sie ihren Kalender und checkt die kommenden Konzerte der vier. Am 17. steht noch eines am Programm, doch dann haben sie Pause bis zum ersten Oktober. Schnell schnappt sie sich ihr Handy und tippt eine Nachricht an Stefanie: >> Hey Steff! Kannst du mich nach eurer Probe kurz anrufen? Aber bitte sag Nowi nichts davon. Gruß, Marie <<
Etwa zwei Stunden später ertönt endlich das erlösende Klingeln von Maries Handy. „Hi! Nowi ist grad aus dem Proberaum raus. Was gibt's denn?" tönt Stefanies fröhliche Stimme durchs Telefon. Marie erzählt Stefanie von ihrer Idee. Diese ist sofort begeistert. „Du bist echt ein Schatz! Nowi wird sich so freuen. Ich glaub ich sollt auch wegfahren – wir brauchen alle ein bisschen Pause nach diesem Konzertmarathon" erklärt Stefanie am Telefon.Die beiden quatschen noch ein paar Minuten, bis Marie sich verabschiedet, weil Nowi vermutlich gleich heimkommen wird. Sie erzählt ihm erstmal nichts von ihren Plänen. Als er eine Woche später vom Konzert in Kamenz zurück ist, hat Marie schon einen Koffer für beide gepackt und im Auto verstaut. Am nächsten Morgen weckt sie ihn ganz früh. „Guten Morgen, mein Liebster! Du musst jetzt leider aufstehen, wir haben heute viel vor uns" flüstert Marie an seinem Ohr. Brummend versucht Nowi seine Augen zu öffnen, was ihm nicht wirklich gelingt. Als er endlich einen Blick auf die Uhr erhascht, grummelt er „Sag mal, es ist 5:30! Das ist wohl nicht dein Ernst!" Marie kichert nur und beginnt ihn zu kitzeln, damit er wach wird. Nowi windet sich und versucht die Hände von Marie zu fassen, damit sie ihn nicht weiter kitzeln kann. Als er sie endlich erwischt hat, ist er tatsächlich auch munter. „Komm, zieh dich an. Ich verspreche dir, dass du im Auto gleich weiterschlafen kannst" grinst Marie und Nowi sieht sie nur verständnislos an. „Vertrau mir" flüstert sie ihm ins Ohr und küsst ihn zärtlich, bevor sie ihm die Decke wegzieht und ihn versucht aus dem Bett zu rollen. Kopfschüttelnd steht Nowi auf und macht sich fertig. Fünfzehn Minuten später sitzen die beiden im Auto und Marie fährt los. Nowi ist gleich wieder eingeschlafen und als er ein paar Stunden später wieder munter wird, weil ihn die Mittagssonne im Gesicht kitzelt, staunt er nicht schlecht, als sie grade bei München vorbeifahren. „Wo willst du denn hin?" fragt er gähnend und streckt sich, so gut das im Auto möglich ist. Marie lacht nur und meint „Lass dich überraschen! Aber wir sollten bald mal wo halten, um was zu essen – ich verhungere schon!" Nach einem kurzen Zwischenstopp geht die Fahrt gleich weiter, bis Marie gegen Abend endlich den Wagen einparkt. Nowis Augen strahlen. Als sie aus dem Wagen aussteigen, geht er sofort ums Auto herum und zieht Marie in seine Arme. „Du bist der Wahnsinn" flüstert er und atmet dann tief die salzige, italienische Meeresluft ein. „Komm mit!" sagt Marie und zieht ihn an der Hand in Richtung Strand.
Sofort schlüpfen beide aus ihren Schuhen heraus und spüren den von der Sonne gewärmten Sand unter ihren Füßen. Hand in Hand gehen sie den Strand entlang, bis das kühle Meerwasser ihre Füße umspült. Während die letzten Sonnenstrahlen des Tages am Meer reflektieren, nimmt Nowi Maries Gesicht in beide Hände und sieht ihr tief in die Augen. „Ich liebe dich!" murmelt er, bevor er seine Lippen auf ihre legt. Marie vergräbt ihre Hände in seinen Locken und die beiden vergessen alles um sich herum. Erst als die letzten Sonnenstrahlen hinterm Horizont verschwunden sind und der Himmel in den schönsten Rottönen leuchtet, lösen sie sich wieder voneinander. Langsam gehen sie wieder zurück zum Auto, das Marie vorhin neben einem kleinen Häuschen geparkt hat, das sie für die nächsten paar Tage gemietet hat. Nachdem sie es sich wohnlich gemacht haben, machen sie sich frisch und spazieren ein Stückchen in den nahegelegenen Ort, um sich eine Pizza und einen guten Wein zu gönnen. Die nächsten paar Tage lassen sich die beiden einfach treiben. Sie genießen die Zeit, liegen am Strand, tauchen durch das Meerwasser und mit jeder Stunde, die sie hier verbringen, blüht Nowi wieder mehr auf. Seine Energie und das Strahlen in seinen Augen kehren zurück. Er wünschte, die Zeit hier würde nie enden. Eines Abends sitzen die beiden eng umschlungen am Strand. Sie bemerken gar nicht, dass ein paar Wolken aufziehen. Erst, als sie die ersten Tropfen auf ihrer nackten Haut spüren, werfen sie einen Blick in den Himmel. Der warme Sommerregen spült die aufgestaute Hitze des Tages von ihren Schultern. Doch keiner der beiden macht Anstalten, aufzustehen und vor dem Regen zu fliehen. Nowi zieht Marie noch näher in seine Arme und küsst zärtlich ihren Hals. Das Wasser legt sich auf ihre Haut. Um sie herum alles vergänglich, doch die beiden fühlen sich in dem Moment unendlich. Der Regen geht und lässt sie alleine zurück. Nass bis auf die Haut vergehen die Stunden bis zum nächsten Morgen ungeträumt.
Auch die nächsten Tage und Nächte verbringen die beiden in ihrer Blase aus Unendlichkeit. Als Marie in der letzten Nacht, bevor es zurück nach Berlin geht, munter wird und sich an Nowi kuscheln will, bemerkt sie, dass das Bett neben ihr leer ist. Vorsichtig tapst sie auf den kleinen Balkon und entdeckt Nowi, wie er dort im Licht des Vollmondes sitzt und etwas aufschreibt. Sie legt ihre Arme um ihn und setzt sanfte Küsse auf seinen Hals. Nowi zieht sie auf seinen Schoß und hält ihr den Zettel hin. „Hier lies mal" flüstert er und während Marie liest, umhüllt die beiden eine Stille. Nur das Rauschen des Meeres ist zu hören. Die ersten Zeilen sind die, die Marie bereits in Berlin gelesen hat und die sie erst auf die Idee zu diesem Urlaub gebracht haben. Mit Tränen in den Augen liest sie die Worte, die Nowi neu hinzugefügt hat:
Es ist schwer die Spur im Sand zu finden, denn Staub und Sturm stehlen mir die Sicht. Doch wie ein warmer Sommerregen regnest du auf mein Leben, wie ein Heer aus Tropfen auf den heißen Stein. Für den Augenblick hielten wir die Luft an und zusammen tauchten wir bis auf den Grund. Wir ließen uns treiben mit dem Strom der Gezeiten und wir strandeten, sind angekommen. Der Regen geht und lässt uns hier alleine und die Sonne lässt uns Mitternacht zurück. Nass bis auf die Haut vergehen die Stunden bis zum nächsten Morgen ungeträumt. Und wir warn unendlich und das Wasser legte sich auf unsre Haut. Um uns alles vergänglich, das behalten wir für uns und den Tag tragen wir bis ins Grab. Es ist schwer den Weg im Sand zu finden, denn Staub und Sturm stehlen dir die Sicht. Doch jeder braucht den Sommerregen, was wäre ohne ihn das Leben – jeder braucht ein Stück Unendlichkeit.
Als Marie den Zettel zurück auf den Tisch legt, laufen ihr stumm Tränen der Rührung über die Wangen. Nowi legt seine Finger an ihr Kinn und dreht ihren Kopf zu sich. Mit den Daumen streicht er ihre Tränen von den Wangen. „Du bist mein Sommerregen, mein Stück Unendlichkeit! Ich danke dir dafür" flüstert er, bevor er ihre Lippen miteinander vereint.