Wissen was wird

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Schon seit zwei Stunden dreht sich Johannes in seinem Bett herum. Wie schon die letzten Tage lassen ihn seine Gedanken auch heute wieder nicht schlafen. Seufzend betrachtet er den Mond, der durch die Vorhänge in sein Zimmer scheint und tanzende Schatten auf den Boden wirft. Er möchte einfach wissen, was wird...wissen, was die Zukunft bringt. Letzte Woche ist er mit dem Zivildienst fertig geworden, im Herbst startet er mit seinem Studium...übergangsweise...zumindest ist es nur zur Überbrückung geplant, bis auch Stefanie, die Jüngste der Band, mit der Schule fertig ist. Eigentlich haben sie den Plan, es dann – in einem Jahr – mit der Band zu versuchen. Mal nach Berlin zu gehen, denn hier in ihrem kleinen Dörfchen Bautzen wird das mit Sicherheit nichts. Aber die Chancen, dass sie in Berlin Erfolg haben, stehen ebenfalls sehr gering. Zu wenige schaffen es in der Musikbranche bis ganz nach oben. Aktuell fühlt es sich für Johannes so an, als würde er in der Luft hängen. Er ist an einem Punkt, an dem er sein Leben planen möchte. An einem Punkt, an dem er wissen will, was auf ihn zukommt. Doch momentan ist alles nur unsicher. Manchmal fragt er sich, ob es seinen Bandkollegen genauso geht oder ob er der Einzige ist, der sich ständig Gedanken um die Zukunft macht. Da er das Gefühl hat, zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht schlafen zu können, steht er auf, zieht sich Hose und Pullover über und schleicht aus seinem Zimmer. Gerade als er die Treppe nach unten gehen will, sieht er aus dem Zimmer seines Bruders noch einen Lichtschein. Verwundert sieht er auf seine Armbanduhr. Es ist bereits halb zwei Uhr nachts, wieso ist Thomas denn noch munter? Er geht zur Zimmertür seines Bruders und klopft vorsichtig an. „Thommy...bist du noch wach?" flüstert er.

Kurz darauf öffnet sich die Tür und Thomas, der für diese Uhrzeit überraschend fit aussieht, blickt ihm erstaunt entgegen. „Was ist denn los, Hannes?" fragt er leise. „Ich...ach keine Ahnung...ich kann nicht schlafen, wollt eben eine Runde spazieren gehen" erwidert Johannes. Thomas merkt sofort, dass seinen älteren Bruder etwas beschäftigt. Deshalb deutet er ihm, dass er mitkommt. Schnell schlüpft auch er in eine Hose und einen Pullover und unbemerkt vom schlafenden Rest des Hauses treten die Brüder kurz darauf ins Freie. „Wieso bist du denn überhaupt noch munter?" fragt Johannes seinen Bruder, woraufhin Thomas meint, dass er an einem Songtext gesessen und völlig die Zeit übersehen hätte. Johannes nickt nur und als Thomas ihn fragt, was ihn wach gehalten hat, zuckt er nur mit den Schultern. Eine Weile gehen sie schweigend nebeneinander her, bis Thomas die Stille nicht mehr aushält. „Jetzt sag schon, was los ist Hannes! Ich merk doch, dass dich irgendetwas beschäftigt!" Johannes räuspert sich und sucht nach den richtigen Worten. „Weißt du...ich mach mir momentan so viele Gedanken über die Zukunft. Ich weiß einfach nicht, ob es das Richtige ist, was wir vorhaben. Ob wir irgendeine Chance haben, einmal beruflich Musik zu machen. Oder besser gesagt, ob ICH irgendeine Chance dazu hab. Ich bin nicht so ein kreativer Kopf wie du, der einfach Texte und Melodien aus dem Ärmel haut. Bin kein Philosoph wie Nowi, der perfekt mit Worten spielen kann. Geschweige denn so eine Rampensau wie Steff, die es auf der Bühne schafft, alle in ihren Bann zu ziehen" vertraut Johannes seinem Bruder seine Zweifel an. Thomas sieht seinen Bruder überrascht an. Er hätte niemals gedacht, dass ihn solche Gedanken plagen. „Aber Hannes, du bist doch ein Teil von uns! Niemand von uns will irgendetwas alleine machen! Entweder schaffen wir es gemeinsam oder wir schaffen es eben nicht. Aber du bist genauso ein wichtiger Teil, wie jeder andere von uns. Du bist derjenige, der unsre Finanzen verwaltet, der alles im Überblick hat und alles zusammenhält. Du kannst organisieren, du bist nicht so verpeilt wie wir anderen drei und behältst für uns den kühlen Kopf" erklärt Thomas leidenschaftlich.

Er kann es nicht mit anhören, wie sich sein Bruder klein macht. Doch dieser sieht ihn nur traurig an. „Danke Thomas! Das tut gut zu hören...trotzdem, immer wenn der Mond am Himmel steht, will ich wissen, was wird, aus dem Morgen, aus dir und mir...also aus uns als Band...will ich wissen, was sich ändern wird, wenn wir diesen Weg gehen. Manche Tage vergehen schneller, manche langsamer, doch mich quälen jeden Tag tausend Fragen. Lassen mich einfach nicht los und ich weiß nicht, was sie mir sagen wollen" erzählt er bedrückt. Thomas legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, ich denke, es ist vollkommen normal, dass man sich in diesem Alter Gedanken um seine Zukunft macht. Aber es ist doch auch wichtig, was man gerne macht. Wofür man lebt, was einen dazu bringt, den Tag zu überstehen. Ich weiß nicht, was das für dich ist, aber für mich ist es eindeutig die Musik, die Musik in Verbindung mit uns vieren. Stell dir mal vor, du würdest heute schon alles wissen, was auf dich zukommt. Was würdest du denn dann tun? Würdest du vor dem Ende fliehen? Wie würdest du denn dann leben? Oder würdest du hocherhobenen Hauptes auf das Ende zugehen und bis dahin dein Leben so leben, wie du es gerne würdest?" Wieder legt sich eine Stille über die beiden und Johannes denkt über Thomas Worte nach. Irgendwann bleibt Johannes stehen. „Ich...ich glaub ich weiß, was du meinst...natürlich würd ich nicht mein Leben lang nur vor etwas fliehen, sondern das tun wollen, was ich gerne mache. Ich lieb die Musik doch auch so sehr, aber hab einfach Zweifel, ob wir es schaffen..." Im Schein der Straßenlaterne kann Thomas den nachdenklichen Gesichtsausdruck seines Bruders erkennen. „Gut, dann suchen wir jetzt mal nach Antworten auf deine Fragen. Vielleicht bringen die ja die Wende" sagt er nun entschlossen. Johannes sieht ihn nur fragend an. Er hat keine Ahnung was sein Bruder von ihm will. Da ergreift Thomas wieder das Wort.

„Sieh mal Hannes, du willst wissen, was wird. Also: wir überlegen jetzt mal, was in 10 Jahren sein könnte. Option 1, jeder von uns hat einen guten, sicheren Job gefunden, nachdem wir es zwei Jahre lang mit der Musik versucht haben, aber eben leider nichts draus geworden ist. Trotzdem waren diese zwei Jahre, die Zeit unseres Lebens, weil wir das gemacht haben, was wir lieben. Option 2, wir haben es gar nicht erst versucht und bereuen es immer noch, weil wir ständig das Gefühl haben, eine Chance verpasst zu haben. Und Option 3, wir haben es versucht, haben tatsächlich Erfolg gehabt und stehen auf den größten Bühnen Deutschlands, mit drei oder vier eigenen Alben. Dürfen jeden Tag das machen, was wir lieben und sind immer noch die besten Freunde. Bitte, hier hast du deine Antworten...Würdest du es nun versuchen oder nicht?" Johannes schluckt hörbar. Die Worte seines Bruders haben ihn grade sehr berührt. Mit rauer Stimme flüstert er „Ich will alles in meinem Leben, aber niemals etwas bereuen, weil ich es NICHT getan habe!" Thomas zieht seinen Bruder in seine Arme und hält ihn fest. Johannes klopft Thomas auf die Schultern. „Danke, Bruder!" murmelt er immer noch ergriffen. Begleitet vom hellen Schein des Mondes machen sich die beiden wieder auf den Heimweg. Während Johannes erschöpft, aber glücklich in sein Bett fällt und sofort einschläft, setzt sich Thomas an seinen Schreibtisch, nimmt ein unbeschriebenes Blatt und seinen Stift und beginnt zu schreiben. Als Johannes am nächsten Morgen munter wird, entdeckt er einen Brief, der durch den Spalt seiner Türe durchgeschoben wurde. Verwundert holt er ihn und setzt sich aufs Bett, um ihn zu öffnen. Als er das beschriebene Blatt herauszieht, entdeckt er sofort die schöne Handschrift seines Bruders. >>Wissen was wird<< steht ganz oben und danach ein Text. Ein Songtext mit den Worten, die er in der Nacht mit seinem Bruder ausgetauscht hat. Eine Träne findet den Weg aus Johannes Augenwinkel. Schnell wischt er sie weg. Nun steht seine Entscheidung endgültig fest. Er kann zwar nicht wissen, was wird, aber er will das machen, was ihn glücklich macht...und das ist, mit seinen besten Freunden Musik zu machen.

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt