Weg

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POV Jenny

Nachdem ich die Grenze von dem Staat New York überquert hatte, stand mein Zielort bereits fest: Lake Torch in Michigan. Ich hatte an einer Raststätte in Stroudsburg, PA eine der Cabins dort gemietet, was super online ging, und da es noch nicht die Hochzeit des Wintersports war, hatte ich Glück und eine war noch frei. Ich musste weg. Weit weg von New York, zumindest für eine Weile.

Meine Fahrt betrug fast 14h, die ich mit einem Mal tanken und mehreren Klo-Stops gut absolviert hatte. Die Anrufe, die Julia fast stündlich tätigte, ignorierte ich, sowie die vielen Nachrichten von Chris und Seb. Ich wollte von ihnen nichts wissen, nicht jetzt zumindest. 

Als ich am Lake Torch endlich angekommen war, holte ich mir den Schlüssel im Haupthaus des Vermietungszentrum und packte meine wenigen Sachen in das kleine Haus, bevor ich den Kamin anfeuerte und mich gedankenverloren davor setzte, um mich zu wärmen. Um die Zeit lag hier schon Schnee und entsprechend kalt war es hier, doch der Ofen hatte den Raum relativ schnell aufgeheizt.

Stundenlang blieb ich vor dem Ofen sitzen und überdachte mein ganzes Leben. Jede Entscheidung, die ich getroffen hatte und hinterfragte, was es gewesen war, was ich getan hatte, womit ich verdiente, was mir widerfahren war. Vor 3 Tagen war ich noch die glücklichste Person der Welt, frisch verlobt mit Chris Evans und jetzt saß ich alleine in Michigan, getrennt von Chris und kurz davor, das Handtuch zu werfen. 

Wieder klingelte mein Handy und wieder war es Julias Bild, was auf meinem Bildschirm leuchtete. Und wieder ignorierte ich sie. Ich konnte jetzt nicht mit ihr reden. Sie war mit dem Verräter zusammen, denn dass Seb nichts gewusst haben sollte, konnte mir keiner erzählen.

Ich fühlte mich verraten und hintergangen. Die Enttäuschung, die ich erlebt hatte, war die Größte, die ich in meinem Leben vermerken konnte. Das war Fakt. Ich hatte mich noch nie so benutzt gefühlt. Ich hatte ihm vertraut, ihm jede Faser meines Körpers anvertraut und ich hätte nie gedacht, dass er derjenige wäre, der mir das Messer in den Rücken stach.

Mein Handy fing erneut an zu vibrieren, doch dieses Mal war es Chris' Bild auf meinem Bildschirm. Wieder stachen Messer in meine Brust. Der Mann, für den ich alles stehen und liegen gelassen hatte. Der Mann, für den ich alles getan hätte. Der Mann, der mich betrogen hatte. Womit hatte ich das verdient?

Ich drückte ihn weg und stellte mein Handy auf lautlos. Ich brauchte einen freien Kopf und entschied mich, joggen zu gehen. Einmal um den See würde ich zwar nicht schaffen, aber ich setzte mir Lake Maplehurst als Ziel. Von hier bis zum Lake Maplehurst und wieder zurück waren ungefähr 17 Meilen, die ich mit links schaffen sollte. 

Nach 3 Stunden und 30 Minuten war ich wieder an der Cabin angekommen und fiel schwer atmend zu Boden. Der Sport tat gut, weil er weh tat und zwar war ich trainiert, aber ich hatte mich wirklich an meine Limits gepusht und so lag ich dort, außer Atem. Nach einer Weile stand ich auf und ging in das kleine Bad, bevor ich mich meiner Klamotten entledigte und unter die Dusche stieg. Sie hatte keine großen Luxus-Features, doch ich liebte die Einfachheit, die diese kleine Hütte mit sich brachte. Es hatte so etwas rustikales, was ich mochte. Auch der alte Ofen brachte genau dieses Rustikale mit sich, was ich sehr ins Herz schloss. Einfach verschwinden, ohne jemand Bescheid zu sagen, das wäre doch die ideale Idee. Einfach von der Bildfläche verschwinden, niemand würde mehr wissen, wer ich war oder wo ich wohnte. Einfach mal Off-Grid leben.

Mein Abendessen bestand aus einer kleinen Mahlzeit, die ich mir in einem kleinen Restaurant nicht weit von der Cabin holte. Es schmeckte gut, doch wirklich genießen konnte ich es nicht, denn Herzschmerz war bekannt dafür, dass jegliches Gefühl von Appetit einfach verschwand. Aber ich aß es, um mich ernährt zu halten. Und danach legte ich mich ins Bett, wo ich müde und erschöpft innerhalb weniger Minuten einschlief.

Am nächsten Morgen erwachte ich früh mit den ersten Sonnenstrahlen. Ich streckte mich, bevor ich die Vorhänge zur Seite schob und sah, dass es über Nacht so sehr geschneit hatte, dass der Schnee fast bis zum Fenster reichte. Das hieß wohl, dass ich den Tag hier verbringen würde, bis vor der Türe geräumt werden würde. Zu meinem Glück hatte ich noch ein Croissant von der gestrigen Fahrt und etwas Kaffeepulver, den ich mir mithilfe des Wasserkochers aufbrühen konnte. Gedankenverloren schlürfte ich an meinem Kaffee und aß das trockene und etwas harte Croissant und verbrachte meinen Tag mit dem Lesen der Bücher, die in der kleinen Hütte zu finden waren.

***

Drei Wochen später kam ich von einer erneuten Joggingrunde zurück. Ich hatte die Strecke bis nach Lake Maplehurst und zurück in unter 3 Stunden geschafft und war stolz auf mich. Mein Handy hatte ich einfach ignoriert, es hatte sich nach 2 Tagen selbst ausgeschalten, da es keinen Akku mehr hatte. Off-Grid tat gut. Vor allem meiner Psyche.

Ich hatte in dieser Zeit mit kaum einer Person geredet gehabt. Ich war einfach für mich. Nächtelanges Weinen mit Schokoladeneis natürlich inklusive. Bald hatte ich die vielen Bücher in der Hütte durch und auch jedes Rezept, was mir so einfiel. Ich war auch Skifahren, wenn ich die Lust dafür fand und genoss einfach die Natur, denn die konnte mich nicht verletzen. Die Natur war schön, auch wenn das Leben es nicht war.

Der heutige Tag war der Erste, an dem ich mein Handy wieder einschaltete. Es dauerte einige Minuten und drohte bald wieder abzustürzen, als die ganzen Nachrichten reinkamen, die mir über die Zeit geschickt worden waren. Viele davon waren von Chris, noch mehr von Julia, doch ich löschte sie alle. Ich wollte damit nicht mehr in Verbindung gebracht werden. 

Stattdessen wählte ich eine andere Nummer, und als er endlich ans Telefon ging, war ich froh, seine Stimme zu hören.

"Pratt?" meldete er sich, er musste wohl nicht gesehen haben, wer ihm angerufen hatte, doch ich war froh. Ich würde mir den Stress nicht gleich geben müssen, ihm zu erklären, wo ich war.

"Hallo Chris, hier ist Jenny. Die aus Deutschland." antwortete ich ihm und ich hörte, wie er stehen und liegen ließ, was er tat und aus dem Raum voller Menschen lief, in dem er eben noch gestanden hatte.

"Jenny? Du lebst ja noch! Wir haben sonst was erwartet, Julia wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben. Geht es dir gut?" meinte er nun und ich bereute für einen kurzen Moment, ihm angerufen zu haben, denn eigentlich wollte ich ihm nicht erklären, wie es mir ging.

"Ja, mir geht es gut." meinte ich nur kurz angebunden und wollte schon wieder auflegen, doch er verwickelte mich geschickt in ein Gespräch.

"Hör zu, ich weiß, die ganze Sache ist schwer zu durchgehen, vor allem alleine. Aber ich verstehe auch, dass du niemand um dich herum haben willst. Lass mich einfach wissen, wenn du was brauchst, ja? Mir ist es nur wichtig, dass es dir gut geht und dass du sicher bist. Aber ich will dich nicht dazu zwingen, mir irgendwas zu sagen. Mensch, du tust mir so leid. Ich wünschte ich könnte dir diesen Schmerz abnehmen."

Es tat gut, dass er versuchte, zu verstehen und dass er sich mir nicht aufdrängte. Das machte die nächste Frage ein wenig einfacher.

"Wenn du mir versprichst, dass du Julia, Sebastian und Christopher nichts davon erzählst und ich dir vertrauen kann, würde ich dich fragen, ob du zu mir fahren magst? Mein Vertrag hier läuft noch eine Woche und wenn du Zeit hast, könnten wir sie zusammen verbringen."

Ich wollte nicht mehr alleine sein, aber ich kannte hier nicht genug Leute, die mir nahe standen und denen ich genug vertraute, dass sie in einer kleinen Hütte mit mir alleine waren. Chris kannte ich und ich fühlte mich wohl, wenn er hier war. Vielleicht tat es mir gut.

"Klar, wenn du nicht möchtest, dass jemand davon Wind bekommt, erzähle ich es niemandem. Du kannst mir da echt vertrauen." antwortete er mir und nach einem kurzen Zögern nannte ich ihm die Adresse. Er versprach mir, so schnell wie möglich bei mir zu sein und ich verabschiedete mich noch von ihm, bevor ich mich dazu entschied, nach einem kurzen Mittagessen noch runter zum Lake Torch zu laufen und mich ein wenig ans Wasser zu setzen. Zwar waren die Temperaturen unterirdisch, aber ich hatte mich im lokalen Kleidungsladen eingedeckt und konnte mich jetzt wohl in den Schnee legen, ohne dass mir kalt werden würde. 

Und zum ersten Mal seit über 3 Wochen hatte ich die Hoffnung, dass alles sich zum Guten wenden könnte.

Love Is All You NeedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt