Kapitel 65

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P.o.V. Natalie Hill

Jesper starrte den Grabstein an, als wären es zwei Geister, die jeden Moment zum Leben erwachen würden und ihn von hinten überfallen würden. Oder als wären es bereits lebende Zombies, die beide Gewehre bei sich hatten.
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen, als ich an die kleinen misslungenen Motive dachte, die man neben der Schrift, die eindeutig besser gelungen war, kaum sehen konnte.
Es tat gut, den Schmerz mal aus sich raus zu schreien, aber dass ich dabei so laut war, dass andere Leute mich hörten war mir doch ein bisschen peinlich. Vor allem, dass diese Peerson ausgerechnet Jesper war. Aber was machte er auch zu dieser Zeit im Wald?
Eigentlich war mir diese Frage für den Moment egal, weshalb ich ihn beobachtete, darauf wartete, dass er endlich bemerkte, wer ich war.
Aber er starrte bloß sehr lange die Grabsteine an.
Ich räusperte mich und sofort schoss Jespers Gesicht zu mir herüber. Er wirkte unsicher.
was hatten meine Brüder ihn über mich erzählt, dass er jetzt solche Angst hatte?
Oder wusste er immer noch nicht, wer ich war?
Ich räusperte mich nochmal. Irgendwie bildete sich ein  fetter Klos in meinem Hals, bei dem alleinigen Gedanken, dass aus zu sprechen, was ich so lange geheim gehalten hatte.
War ich eigentlich noch ihre Schwester?
Denn um zu einer Familie zu gehören musste man nicht zwingend Blutsverwand sein, dass hatten wir damals immer zu uns gesagt, wenn wir uns nach einem Streit vertragen hatten. Das Blutsband hatte uns vielleicht am Anfang zusammengeführt, aber deswegen mussten wir noch lange nichts miteinander zu tun haben. Das einzige, was uns zusammen hielt, war unser eigener Wille.
Und der war bei meinen Brüdern anscheinend nicht besonders groß gewesen.
,,Ähm.. Ich bin ihre Schwester. ich bin Natalie Torres", erklärte ich Jesper schließlich nochmal .
Seine Reaktion fiel ganz anders aus als erwartet.
Jegliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht, als er anklagend auf mich zeigte:,, Das kann nicht sein! Du lügst. Das ist gar nicht möglich. Und das ist nicht lustig. Ich will nicht in die Psychospielchen rein gezogen werden"
Überrascht schaute ich ihn an . Okay, was auch immer meine Brüder erzählt hatten: Es war absoluter Bullshit.
,,Was meinst du mit Psychospielchen. Ich bin ihre Schwester und fertig. Ich will dir doch gar nichts tun. Oder seh ich so aus", er verwirrte mich und das machte mich wiederum wütend.
Heute war ein Tag, wo meine Emotionen sich dachten, sie könnten alles kontrollieren, weshalb ich mich echt zügeln musste, um ihn nicht zu packen und kräftig durch zu schütteln, als er bloß schwieg.
,, Meine Fresse Jesper, jetzt antworte doch endlich. Was haben meine Brüder dir über mich erzählt?" Innerlich wappnete ich mich für einen emotionalen Schlag ins Gesicht und bereitete mich äußerlich schon mal auf eine schnelle Flucht vor. Er sollte nicht meine Reaktion sehen.
Jesper schien zum Glück kein begabter Klettere zu sein, wie man an seinem filmreichen Sturz erkannte.
Er schüttelte leicht den Kopf:,, Sie haben viel von dir erzählt. Am Anfang andauernd. Aber sie haben gesagt, dass du sie dich nicht erreichen können. Ihr...Euer Vater..."
Jesper schüttelte schon wieder den Kopf und endete Mitten in seinem Satz.
Was zum Teufel meinte er bitte mit nicht erreichen? Und woher wollten sie etwas von unserem Vater wissen?
,,Sie sollten es dir selber erzählen", meinte Jesper.
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Was stellte er sich vor, wie stabil ich war? Heute war der Todestag meiner Mutter, da wollte ich nicht nochmal von meinen Brüdern persönlich ins Gesicht gesagt bekommen, warum sie mich verlassen hatten.
War es etwa so schlimm, dass er nicht mal in der Lage war, es mir ins Gesicht zu saben?
Nervös biss ich audf der Innenseite meiner Wange herum.
,,Sag du es doch einfach"
Vielleicht, wenn ich genug bettelte...
Doch Jesper schüttelte jetzt entschieden den Kopf.,, Das ist Familiensache"
Ich schnaubte empört:,, Du hast mir versprochen, zu sagen,warum ihr heute schwänzt, also schieß los"
Er grinste mich leicht an, was völlig unangebracht aber gleichzeitig auch etwas befreiend in dieser Situation waren:,, Tja, wir schwänzen, weil heute der Todestag eurer Mutter ist. Das ist die Wahrheit"
,,Und was ist mit unserem Deal?"
Jespers grinsen wurde noch breiter. Was für ein arroganter Waschlappen.
,,Naja, also ich wollte dir nur sagen, warum ich Rachel gemieden habe, aber das ist ein ganz anderer Grund."
,,Ich will ihn trotzdem hören", bockig verschränkte ich meine Arme vor der Brust, auch wenn ich eigentlich ebenfalls ganz gerne gewusst hätte, was meine Brüder jetzt erzählten.
Jetzt grinste er nicht mehr so doof.
,,Okay, also, du versprichst es keinem weiter zu sagen, richtig"
,,Richtig", nickte ich, gespannt, was jetzt kommen würde.
,,Als ich zwölf Jahre alt war, ist meine Mutter abgehauen. Von einem auf den anderen Tag ist sie einfach verschwunden. Ich habe sie, um ehrlich zu sein, nicht sonderlich vermisst, aber von da  an war ich mit meinen beiden Schwestern alleine. Ich wollte Rachel ganz einfach nicht da rein ziehen und hatte eine riesen Angst, dass irgendjemand bemerkt, dass ich jetzt alleine war, und wir dann auseinandergerissen und ins Kinderheim gesteckt werden. Außerdem hatte ich gar keine Zeit mehr, für irgendwas anderes. Ich musste mich ja um meine Schwestern kümmern. Das war scheiße, aber besser für uns beide. Und danach habe ich mich nie wieder bei ihr entschuldigt, weil es auch besser füre uns beide war. Sie hatte ihr Leben und ich hatte mein Leben, was sowieso schon viel zu voll war. Deine Brüder sollten sie nicht ersetzten, aber sie sind ziemlich schnell hinter mein Geheimnis gekommen und haben mir einfach unglaublich geholfen, weil sie sich ständig um Lene und Hannah gekümmert haben. Ich glaube, sie fühlten sich irgendwie an dich erinnert"

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