Kapitel 55

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Unbewusst kuschelte ich mich etwas näher an Jesper heran.
Er spendete mir Trost.
Mehr als er wahrscheinlich sollte, aber das störte mich gerade nicht.
Für einen Moment waren die Wunden alle vergessen, genau wie der Grund, warum ich weinte.
Ich war ruhig und gleichzeitig auch total aufgeregt. Es war schön, hier, auf diesem altem Sofa zu liegen und für einen Moment die Welt um uns herum zu vergessen.
Zögerlich drehte ich meinen Kopf etwas zur Seite, um zu sehen, ob es ihm genauso ging, und war plötzlich überraschend nah an dem Gesicht von Jesper, der meinen Blick ohne Scheue erwiederte.
Erst jetzt fiel mir auf, wie weiche Gesichtszüge Jesper eigentlich hatte.
Sonst sah er immer so verbissen oder angespannt aus, selbst wenn er eigentlich lachte, aber jetzt wirkte er komplett losgelöst, so als hätte jemand all seine Sorgen und Probleme von seinen Schultern genommen und er könnte für einen kurzen Moment entspannen.
Mein Atem ging schneller, alleine dadurch, dass wir uns so nah waren, auch wenn wir uns bloß anschauten.
Nach den ungeschriebenen Regeln des Anschauens dauerte unser Blickkontakt schon genau fünfzehn Sekunden zu lange, um keine große Bedeutung zu haben. Und mit jedem Wimpernschlag wurde es ein Moment länger, indem wir beide nicht den Blick abwaden.
Aber ich wollte jetzt nicht wegschauen.
Eine plötzliche Spannung lag im Raum, während ich mich in seinen unglaublichen Teddyaugen spiegelte.
Ich wollte den Augenblick festhalten. Für immer.
Jesper öffnete mehrmals seinen Mund, als wolle er was sagen, aer ich hatte nicht mal ein all zu großes Problem, wenn er das für sich behielt, was er sagen wollte.
Mittlerweile schätzte ich irgendwie sogar unsere kleinen Streitereien, wenn wir uns nicht aufs härteste Beleidigen, aber bis jetzt hatte jedes Gespräch so geendet.
Deswegen war der bloße Blickkontakt, mit dem wir einfach nur unsere Gefühle austauschten um einiges schöner, aber auch viel intensiver.
Jesper räuspertete sich, ich hätte schwören können, dass sein Blick ganz kurz zu meinen Lippen runter ruschte...

*BENG*

Mit einem lauten scheppern fiel etwas auf dem Boden.
Mir entwich ein kleiner, spitzer Schrei, als ich von Jesper weg fuhr.
Mein Gesicht musste rot wie eine Tomate sein, als gleichzeitig auch noch der Schmerz in keinen Bauch fuhr, von den ganzen Wunden, die plötzlich wieder präsent in meinem Gehirn waren.
Peinlich berührt schaute ich zur Wohnzimmertür und wurde nochmal eine Stufe, oder nannte man das auch Oktave, röter.
Dort, in der Wohnzimmertür stand ein Mädchen, was fast genauso rot war wie ich.
Sie sah aus, als wäre sie höchstens acht Jahre alt und hatte noch den wunderschönen Kindercharme:
Ihre braunen kinnlangen Haare standen wuschelig in allen Richtungen vom Kopf ab und sie trug ein viel zu großes Schlafhemdchen.
Ihre Augen waren riesig und sahen eindeutig so aus wie die von Jesper.
Braun und wunderschön.
Das war dann wohl Jespers Schwester.
Mit hochrotem Gesicht hob sie ein dickes Buch, was ihr heruntergefallen war, hoch und schaute zwischen Jesper und mir hin und her.
Auch ich wand einen kurzen Blick zu Jesper, der jetzt wieder total angespannt wirkte.
Sein Kiefer war nach vorne gestreckt, sein ganzes Gesicht war voller Wut und noch was anderem, undefinierbarem.
War er sauer auf mich? Hatte ich falsch gemacht?
Aber er hatte genauso lange und ungeniert in mein Gesicht gestarrt. Deswegen konnte er nicht sauer auf mich sein.
Das Mädchen kicherte nervös und sah ausschließlich ihren Bruder an:,, Jesper, ich bin aufgewacht und habe deine Stimme gehört, als dachte ich, dass du mir noch etwas vorlesen kannst... Aber" und jetzt blinzelte sie mich tatsächlich frech an ,,es sieht so aus, als hättests du Besuch"
Überrascht schaute ich das Mädchen an. Vielleicht war sie doch etwas älter, als ich gedacht hatte. Auf jeden Fall war klar, dass sie nicht ansatzweise  schüchtern war, wie es gerade erst ausgesehen hatte.
Jesper räusperte sich verlegen. Für ihn musste die Situation noch viel unangenehmer sein, als für mich, denn seine kleine Schwester hatte ihn gerade mit einem Mädchen, mitten in der Nacht, im Wohnzimmer erwischt, in einer Position die wahrscheinlich ziemlich auf einen Kuss hindeutet.
Das wir uns eigentlich nicht mochten und alles ganz anders war, wie es ausgesehen hatte, konnten wir ihr wohl schlecht erzählen.
Aber es war anders gewesen.
Doch so frei wie sie redete würde sie ihre Version sicher ihren Eltern erzählen.
,,Also.. Lee, dass ist Hannah, meine kleine Schwester. Hannah, dass ist Lee, wir gehen in die gleiche Klasse.", stellte Jesper uns so kurz wie möglich vor und schaute dann Hannah streng an:,, Eigentlich solltest jetzt schlafen. Es ist schon weit nach Mitternacht..."
Aber Hannah ignorierte ihn einfach, sondern musterte jetzt mich,mit ihren großen Augen:,, Bist du die, mit der mein Bruder heute unterwegs war, weil ihr ein Schulprojekt zusammen macht?"
Überrascht schielte ich zu Jesper rüber. So was erzählte er seiner Schwester?
Obwohl, war ja irgendwie logisch. Vielleicht waren die Eltern den ganzen Tag schon weggewesen und dann hatte sie alleine zu Hause bleiben müssen.
Zögerlich nickte ich.
Das sah Hannah wohl irgendwie  als Einladung, ganz in das Wohnzimmer zu gehen und sich genau zwischen uns auf das Sofa zu pflanzen.
Erschrocken sah sie auf meinen Arm:,, Du hast ja ganz viele Wunden. Kämpfst du auch in der Halle? Jesper kämpft da auch, aber er will eigentlich nicht, dass jeder..." Jesper knuffte sie leicht in die Seite, damit sie verstummte,  auch wenn ich Hannah gerne noch zu gehört hätte, sie würde mir sicher ein paar interessante und aufschlussreiche Sachen erzählen können.
,,Lee ist verletzt und ich muss sie jetzt verbinden Hannah, kannst du hochgehen und nochmal versuchen ein zu schlafen? Wenn ich fertig bin komme ich auch hoch und schaue ob du schläfst, in Ordnung?"





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