Kapitel 110

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JOHN WALSH/town

Nachdem diese Nora verschwunden ist, lege ich den Zettel, den sie hinterlassen hat, ohne ihn anzusehen in eine Schublade in meinem Schreibtisch. Bis zum Mittag, habe ich einen Termin nach dem anderen und alle langweilen mich so sehr, dass meine Gedanken mir immer wieder entfliehen. Sie studieren lieber das Gesicht dieser Nora eindringlich, sie hat große braune Augen und mittellange blonde Haare, zwei Dinge, die sie nicht mit der Melissa Hofstätter von damals gemeinsam hat. Allerdings die Art wie sie die Schultern strafte und mir immer wieder Kontra gab, war sehr wohl Melissa. Es war beeindruckend, dass sie sich nicht vom Kurs abbringen ließ und wie gut sie meine Mimik gelesen hat, trotz meines Pokerface. Als auch der vorerst letzte Termin vorbei ist und ich einen frischen Kaffee vor mir stehen habe, hole ich den Zettel den Nora Hoefer, so steht es in der Kopie ihres Passes, aus meiner Schublade hervor.

Es ist das Testament, das ich vor über 30 Jahren in einer kleinen Kanzlei in Deutschland aufgegeben habe, bei ihr, Melissa Hofstätter. Vor Schreck über diese Kopie verschlucke ich mich an meinem Kaffee. Doch es kommt noch besser, als ich zwei Handschriften darunter finde. Eine ist fein säuberlich, ein Nachtrag zu meinen Angaben.

Deine Tochter wird nie etwas von dir erfahren, das schwöre ich bei meinem Leben! Gezeichnet Melissa Hofstätter

Was? Das ist ein Scherz. Das kann nicht sein. Mit einem Knopf an meinem Telefon lasse ich mich zu meiner Assistentin durchstellen. "Keine Termine mehr, für den Rest des Tages!" Ordne ich an und sie wagt es mir zu widersprechen: "Aber das Redaktstions" "Nein, oder willst du gefeuert werden!" drohe ich ihr, natürlich in Englisch, denn hier bin ich John Walshtown, einer der Head-Lektoren. Dann lasse ich den Hörer auf mein Telefon knallen und begutachte die andere Handschrift.

Sie ist wesentlich schwungvoller, dennoch ordentlich, es ist die Adresse eines Hotels im Greenwich Village und eine deutsche Handynummer mit der Unterschrift Nora H.

Laut fluchen stehe ich auf "FUCK" brülle ich und fahre mir durch die Haare und übers Gesicht. Ich laufe rastlos auf und ab, schaue aus dem Fenster, trete meinen Stuhl in die Ecke und lasse meine Wut raus, bis es an meine Tür klopft und meine Assistentin mich verängstigt anschaut. Zögerlich fragt sie: "Ist alles okay?" Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und schnauze sie an, "Ja und jetzt verschwinde", schon geht sie und ich wüte weiter in meinem Büro, ehe ich an der Wand gelehnt auf den Boden sacke.

Umgehend fluten Bilder von Melissa meine Gedanken, ihre grünen Augen, ihre langen dunkelbraunen Haare, ihr Körper, seit Jahren sucht mich diese Frau heim, es ist egal mit wem ich in den vergangen 30 Jahren zusammen war, immer wieder kommt sie in meine Gedanken zurück und macht es sich dort gemütlich, als hätte sie ihre eigene Eigentumswohnung darin.

Und dann kreist mir Nora im Kopf herum, sie ist genau 32 Jahre alt und sie wurde im September geboren, Informationen, die ich ihrer Passkopie entnehme, das sind in etwa 9,5 Monate nach meiner Abreise. "SCHEIßE!" Fluche ich wieder, wieso hat sie es mir nicht gesagt? Fragt mich mein Kopf zum wiederholten Mal. Wann denn? Du warst im Nahen Osten und untergetaucht und dann warst du zu feige und hast sie beschatten lassen. Du hast nur dem Kellner von damals, diesem Richard, der mittlerweile ihr Freund geworden war, deine Nummer gegeben. Dann hast du aus sicherer Entfernung zugesehen, wie sie die Karte vor deinen Augen zerreißt und es als Zeichen gesehen für immer aus ihrem Leben zu verschwinden. Antwortet die Vernunft in meinem Kopf. Sie hätte es mir sagen müssen! Ich habe ein Recht darauf! Beschließt mein Kopf, doch wieder antwortet die Vernunft: So ein quatsch du hättest es angefochten, immerhin warst du schon damals unfruchtbar. Außerdem hattet ihr nur eine gemeinsame Woche und dann warst du 5 Jahre weg.

Plötzlich wird mein Herz schwer, Melissa, Noras Mutter, in all den Jahren war sie die Einzige, zu der ich zurückkommen wollte. Mit der ich mir eine Zukunft vorstellen konnte, ja ich hatte mittlerweile zwei Ehen hinter mir, aber keine der Frauen war auch nur annähernd so faszinierend wie Melissa Hofstätter. Ich beschloss mich vom Boden meines Büros zu entfernen, richtete mich auf und Griff zum Hörer. Die Nummer konnte ich im Schlaf. Die Nummer der Rechtsanwaltskanzlei von Melissa Hofstätter in einem kleinen verschlafenen Kaff in Deutschland. Doch sie hatte sich weit über die Stadtgrenzen einen Namen gemacht. Ohne dass sie es weiß, habe ich ihr bereits mehrere große Klienten zugespielt, und sie hat jedes Mal gewonnen. Da es in Deutschland sechs Stunden später ist und somit mitten in der Nacht, lege ich wie üblich nach der Anrufbeantworteransage auf, ja dies ist eins meiner Rituale, die ich viel zu oft mache.

Der Mitbewohner Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt