Kapitel 1

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Finnick
Ich wurde nicht gehört. Ich wurde nicht gesehen.
Ich existierte nicht.
So fühlte es sich an, am Frühstückstisch zu sitzen und den belangenlosen Gesprächen meiner Eltern zu lauschen.
Ich riss mich zusammen bevor die düsteren Gefühle sich meiner bemächtigen konnten. Je mehr ich meine Andersartigkeit zuließ, umso mehr zerfraß sie mich.
Mein morgendliches Mantra war leicht vorgesagt:
Ich bin nicht schwul. Es ist nur eine Phase die vergeht. Niemand darf es je erfahren. Niemand wird es je erfahren.
Wenn meine Eltern wüssten, dass ich schwul wäre, dann würde ich das nicht heil überstehen. Meine kleine Schwester hatte mal den Fehler begangen und gesagt, sie wäre süchtig nach Süßigkeiten. Meine Eltern sperrten sie für zwei Wochen in einen ungenutzten Raum in unseren Keller. Sie brachten ihr alles runter was sie wollte, ein Bett, ein Fernseher, ihre unzähligen Hefte, etwas zu trinken. Nur eine Sache wurde meiner Schwester Lusia, verweigert.
Etwas zu essen.
2 Wochen ohne etwas zu essen.
Das sind 14 Tage.
Das sind 336 Stunden.
Das sind 20.160 Minuten.
Das sind 1.209.600 Sekunden.
Damals war sie 5.
Jetzt ist sie 12 und geschickter darin ihre Fehler zu verbergen. Sie ist gehorsam, höflich und wohlerzogen.
Die perfekte Tochter und der perfekte Sohn.
Eine perfekte kleine Familie.
Tag für Tag redete ich mir ein, dass meine Eltern es nur zu unserem besten Taten. Das all die Regeln und all die Strafen nur zu dem Zweck dienten, uns zu wohlerzogenen Kindern zu machen.
Wenn man sich jeden Tag, 9 Jahre seines Lebens diese Sachen einredet, dann hören sie sich nach einer Weile richtig an.
Woher weiß ich überhaupt, dass es nicht richtig ist? Woher weiß ich, dass nicht meine eigenen Gedanken falsch sind?
Eltern wollen doch nur das Beste für ihre Kinder.
Warum sollte es in unserem Fall anders sein?
Wir sind die perfekte Familie.
,,Mutter, Vater. Ich muss los." Sie verlangten zwar keine besonderen Höflichkeiten, aber es war immer besser vorsichtig mit Ihnen zu reden. Man wusste nie in welcher Stimmung sie grade waren. Mein Vater schaute nicht von seiner Zeitung auf, als ich aufstand, meinen Teller in die Küche räumte und nach meiner fertig gepackten Schultasche im Hausflur griff. Lusia schlief wahrscheinlich noch, da sie seit vorgestern mit Fieber im Bett lag. Krankheiten waren eine Ausnahme.
Krankheiten machten meine perfekten Eltern nervös. Krankheiten konnte man nicht mit Strafen besiegen. Krankheiten kamen und gingen wir es ihnen gefiel.
Vollkommen unkontrolliert.
,,Finnick, gib deiner Mutter einen Abschiedskuss." Ich befolgte den barschen Befehl meines Vaters kommentarlos, lief zurück und drückte meiner Mutter einen kurzen Kuss auf die Wange. Sie lächelte warm und strich mir flüchtig über den Arm. So gesehen wirkte sie wohl fast mütterlich. Nun ja sie war ja auch meine Mutter. Aber anders als mein Vater, der seine Befehle offen äußerte, war sie wie eine Schlange, die hinterlistig auf einen Fehler wartete und dann mit ihrem tödlichen Gift zuschlug. ,,Schönen Gruß an meine Schwester." Meinte ich zum Abschied und ging durch die Tür hinaus.
Ein neuer Tag in der Schule der Oberflächlichkeit.
Wer war angesagt? Wer hatte Geld? Wer hatte mit wem, wann, wie und wo geschlafen? Was gab es neues in der Gerüchteküche?
Ich hasste es. Ich durfte es nicht hassen, denn das würde das perfekte Bild trüben.
Und doch tat ich es.
Ich hasste alles so sehr.

Cheers Mates!
Am Anfang ist noch nicht ganz so viel Handlung drinnen, weil ich erstmal versuchen möchte die Situation und Finnicks Gefühle zu beschreiben. Ich hoffe das ist mir einigermaßen gelungen.
Bye Bye

Ich.Bin.Nicht.Schwul.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt