1. Kapitel

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„Und du bist wirklich sicher, dass du da alleine hin willst?", fragt Lucia skeptisch. Ich wende seufzend meinen Blick vom Gleis und schaue meine beste Freundin an.
„Du kannst auch gerne mitkommen, da stehen bestimmt wieder welche rum, die illegal Karten verkaufen", sage ich bestimmt schon zum vierten Mal heute. Sie schaut mich vernichtend an.
„Amari Carolin Ginsers. Du weißt haargenau, was ich meine." Ich nicke betont langsam.
„Als ob genau heute wieder etwas passieren würde. Und wenn schon, ich kenne das ja langsam auswendig. Wirklich, um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich krieg das hin." Lucia schüttelt den Kopf, sodass ihre blonden Locken fliegen.
„Ich kann dich ja eh nicht davon abbringen, nicht wahr?", seufzt sie. Ich klopfe ihr übermütig auf die Schulter.
„Lucia, du hast es verstanden", grinse ich und werfe einen Blick zur Anzeige.

5 Minuten Verspätung.

Als wäre das scheußliche Wetter nicht schon genug. Wenigstens ist das Gleis überdacht, sonst würden wir hier direkt im stürmischen Regen stehen.
„Du musst das verstehen, dass ich mir Sorgen mache. Denkst du, ich will das? Denkst du, ich habe geplant, dass ich heute hier neben dir stehe, und dir sage, dass du nicht gehen sollst? Du sollst doch auch deinen Spaß haben, aber etwas in mir wehrt sich einfach dagegen. Etwas, das dich vor drei Jahren wieder normalisieren musste." Sie zieht vielsagend die Augenbrauen hoch und schaut mich durchdringend aus ihren babyblauen Augen an.
Ich weiß genau, worauf sie anspielt.
„Ach, komm schon. Das damals war ein Anschlag, ein richtiger Anschlag, und das wird heute nicht passieren, das verspreche ich dir. Hast du das nicht mitbekommen? Die diskutieren doch grade überall diese Theorie", versuche ich sie zu beruhigen.
„Dass jede Band und so weiter nur einmal angegriffen wird? Na, darauf würde ich mich aber nicht verlassen", meint Lucia trocken.
„Pentatonix wurde schon mal attackiert. Siehst du? Kein Grund zur Sorge. Und selbst wenn, dann renne ich einfach raus und gut ist. Jetzt mach nicht so ein Gesicht, ich hasse das", protestiere ich und ziehe ihre Mundwinkel nach oben. Was sie genauso wenig leiden kann wie ich ihr ungewolltes Talent als Grimassenschneiderin.
„Und ich hasse dich", brummt sie und boxt mir in die Seite, was ich mit einem unschuldigen Lächeln über mich ergehen lasse.
„Kann dieser blöde Zug jetzt bitte kommen? Ich habe keinen Bock, zu spät da zu sein!", quengele ich und lasse genervt meinen Kopf in den Nacken fallen.
„Wenn der pünktlich da ist, bist du drei Stunden vor Beginn an der Halle. Zu spät wirst du garantiert nicht kommen, du Verrückte", meint Lucia kopfschüttelnd. Ich zucke mit den Schultern und wippe nervös von meinen Fersen auf meine Zehenspitzen. Nur ein winzig kleiner Stich in meinem rechten Knöchel erinnert mich daran, dass ich vor drei Jahren Opfer eines Anschlags wurde.
Für eine Sekunde schaue ich nachdenklich meinen Fuß an, doch Lucia entgeht das natürlich nicht, wie sollte es auch anders sein.
„Na, tut es weh? Erinnerst du dich daran?", fragt sie, halb besorgt, halb kritisch.
„Es tut nicht weh, keine Angst", lache ich. Sie zuckt mit den Schultern.
„Kann ja sein. Ich weiß noch ganz genau, wie du damals gejammert hast", sagt sie.
„Erinnere mich ruhig daran. So was will ich kein zweites Mal durchmachen", stöhne ich und wackele mit den Zehen. So verrückt es klingt, das musste ich auch erst wieder lernen. Die Kugel hat genau den Nerv getroffen, und bis der verheilt war, konnte ich noch nicht mal richtig laufen.
Lucia holt grinsend Luft und setzt grade an, etwas zu sagen, als ich sie mit einer Handbewegung unterbreche.
„Jap, das meine ich auch so. Da hast du deine Bestätigung, dass ich bei einem Anschlag gleich fliehen würde." Lucia nickt nachdenklich.
„Na dann, dein Zug kommt. Viel Spaß dir, überlebe das gefälligst, hörst du?", seufzt sie und drückt mich ein letztes Mal an sich, bevor ich einsteige. Die Türen schließen sich, die Aneinanderreihung von Wagen setzt sich in Bewegung.
Der Bahnhof verschwindet, und mir wird schlagartig klar, dass - Sollte Lucia recht haben und ein Anschlag verübt werden - dies die letzte Begegnung mit meiner besten Freundin sein könnte. Den Gedanken verdrängend widme ich mich der Umgebung, über die sich langsam der Schleier der Nacht legt. Regen peitscht gegen die verschmutzten Scheiben und fröstelnd schlinge ich meine Jacke enger um meinen Körper.
Ein Glück, dass der Bahnhof nur wenige hundert Meter von der Halle entfernt ist.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt