30. Kapitel

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Mein Herz klopft zum Zerspringen schnell, bis ich die Feuerwerke bei den letzten zwei Bühnen sehe. Dass ich dabei die Stimmen von fünf einfach wundervollen Engeln höre, macht es nicht besser.
Hektisch atmend klammere ich mich an meiner Tasche fest und dränge mich auf den Ausgang zu, bei dem ich schließlich doch stehen bleibe. Es bringt nichts, wenn ich jetzt gehe. Es beweist nur wieder, was für ein Feigling ich sein kann.
Mit einem verächtlichen Schnauben, verwundert über mich selbst, drehe ich mich wieder zur Bühne um und beschließe, einfach ein paar Fotos zu machen, um mich abzulenken.
Die Musik dringt nur noch gedämpft zu mir, ich konzentriere mich ausschließlich auf meine Kamera, auf das Bild, welches sich mir bietet.
Bis ich frustriert feststelle, dass entweder meine Kamera oder meine Kenntnisse zu schlecht sind und ich Pentatonix nicht richtig scharf fotografieren werden kann, vergehen einige Zeit und einige Lieder. Komplett aus meiner Trance schrecke ich aber erst, als alle winkend die Bühne verlassen und sich die Menge vor mir zum Teil auflöst.
Wie ein Fels in der Brandung bleibe ich stehen, beobachte die Menschen, welche an mir vorbeiströmen, wie das Meer – oder eben der Ozean, wenn man dem Bühnennamen glaubt.
Als auch ich mich auf den Heimweg mache, mit einem beklemmenden Gefühl, ist es für Osaka schon dunkel.

Twitter und Instagram sind gefüllt von Lobeshymnen auf das Konzert am heutigen Abend, und auch auf den Pentatonix-Accounts zeigen sich die Sänger begeistert.
Mit meiner Kamera in der Hand und dem Laptop auf meinem Schoß sitze ich auf dem Bett in meinem Zimmer und starre abwechselnd den kleinen und großen Bildschirm an, zweifelnd, ob ich die Bilder hochladen soll.
Das blaue Kappen tragende Menschenmeer, welches ich eingefangen habe, ist mir dann doch so viel wert, dass ich die Fotos wenigstens auf meinen Laptop übertrage und aussortiere. Mit einem Grinsen bemerke ich, dass die Leute bei Pentatonix viel ausgelassener sind, selbstgemalte Plakate versperren teilweise die Sicht auf die Bühne, Hände sind jubelnd in die Luft gehoben, man kann die fröhliche Atmosphäre beinahe spüren.
Als sich schon wieder die beklemmende Enge um mein Herz legt, klicke ich kopfschüttelnd weiter und finde tatsächlich einige Bilder, die ich zur Erinnerung speichere.
Um ein Uhr morgens füge ich gähnend drei der Bilder in einer Collage zusammen und schreibe als große Überschrift „Konzerte von Pentatonix" darüber, bevor ich die einzelnen Fotos beschrifte. Das Erste, die ruhige, blaue Menschenmenge vor dem Konzert bekommt exakt das zugewiesen – Schwarz auf weiß steht nach wenigen Sekunden „Davor" auf dem Bildschirm. Das mittlere Bild zeigt die Fans beim Konzert, die Sänger klein im Hintergrund, verschwommen und fast nicht zu erkennen, aber unfehlbar Pentatonix. „Währenddessen". Das letzte Foto schaue ich lange an, die Leute, die mir entgegeneilen, anderen Konzerten oder ihrer Unterkunft entgegen, „Danach", schreibe ich nachdenklich darüber.
Dann lade ich es hoch, ohne noch viele Gedanken damit zu verschwenden, und lege mich ins Bett, wo ich in einen unruhigen Schlaf falle.

Zimmerdecken können eine erstaunlich entspannende Wirkung haben.
Ich habe keine Ahnung, wie viel Uhr es ist, ich bleibe einfach liegen, schaue das beruhigende Weiß über mir an und denke nach.
Wieso mache ich das hier alles?
Weil ich Antworten will. Die Welt sehen, auch wenn mir dieser Gedanke erst jetzt und spontan kommt. Fotografieren, herumkommen, sehen, wohin mich alles leiten wird.
Aber brauche ich die Antworten wirklich, wenn der Weg dorthin so schwer ist?
Eigentlich nicht, bilde ich mir ein. Vielleicht erzählen sie die wahre Geschichte ja noch in irgendeinem Interview.
Ganz ehrlich, das denke ich doch nur, um eine Ausrede zu haben, wenn ich abbreche. Aber das werde ich nicht machen. Wann sonst hat man einen deftigen Grund, um Pentatonix zu verfolgen und kennenzulernen? Nie.

Ich werde damit weitermachen, bis ich keine Angst mehr vor Anschlägen habe, dafür verfluche ich mich nämlich. Dass ich mich gestern alle paar Sekunden panisch umsehen musste, die Musik geflissentlich überhört habe, bei jedem Knall zusammengezuckt bin.
Gähnend schnappe ich mir mein Handy und schreibe meiner Mutter und Lucia, die mich vollgetextet haben, wohingegen ich ihnen nur kurz nach meiner Ankunft ein paar Sätze geschickt habe.
Das sollte ich womöglich mal aufholen.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt