8. Kapitel

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Menschen sind nicht perfekt.
Menschen können nicht in die Zukunft sehen.
Aber sie können es versuchen und recht haben.
Meine Freundin hat mich gewarnt, und ich habe nicht auf sie gehört.

Ich bin so dämlich.

Wie konnte ich glauben, dass es hier anders wird?
Was war es, das mich so sicher gemacht hat?
Meine Vernarrtheit in Pentatonix?
Mein idiotisches Selbst?
Wahrscheinlich beides.
Doch das wird mir natürlich alles erst in dem Moment klar, in dem es zu spät ist.

Viel zu spät.

Zu spät war es ab dem Moment, in dem ich mir in den Kopf gesetzt habe, zu diesem Konzert zu gehen, aber was bringt mir das noch?
Was bringt einem Sicherheit, sicheres Wissen, wenn es zu spät ist?
Sicher zu wissen, dass man sterben kann, ist grausamer als alles Andere, egal, ob man nun stirbt oder nicht.
Und selbst das Wissen, dass ich dies hier schon dreimal überlebt habe, gibt mir keine Sicherheit.
Aber dennoch: Ich werde keine Unschuldigen sterben lassen. Schon gar nicht mich.

Angst lähmt meinen Körper, als ich es höre.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen, die Welt um mich herum dreht sich langsamer, die Geräusche werden leiser. Bilder fügen sich in meinem Kopf zusammen, bis sie eine einzige Matte bilden, die mir den Atem raubt.
Meine Mutter, die im Sterben liegt.
Der Blick des Jungen, der sich trübt und schließlich ganz versiegt, schwarz wird.
Das Schreien des kleinen Mädchens, herzzerreißend klar.
Tausende Unschuldige, die wissen, dass sie sterben werden.
Mir ist übel, ich klammere mich an Su fest, die mich nicht mal wahrnimmt. Noch hat niemand gemerkt, was hier vor sich geht - Außer diejenigen, für die es schon längst zu spät ist.
In panischer Hektik sehe ich mich nach der nächsten Sicherheitskraft um, die nur wenige Schritte entfernt steht und einen Ohrenschutz sowie Sonnenbrille trägt, während sie gelangweilt auf ihrem Handy etwas tippt.
Ich schnappe unkontrolliert nach Luft, verschlucke mich an meinem eigenen Speichel und huste mir sogleich die Lunge aus dem Leib. Ein misstrauischer Blick von dem Mann in dem schwarzen T-Shirt, weiter nichts.
Nachdem sich meine Atmung normalisiert hat, starte ich den nächsten - Eigentlich ersten - Versuch, ihn auf mich aufmerksam zu machen.
Bei Su hat das eben schon prima funktioniert, nur dass sie sich schon wieder abgewandt hat. Wie wild geworden winke ich dem Sicherheitsmann zu, der grinsend zurück winkt und dann betont lässig das Handy in seiner riesigen Hosentasche verschwinden lässt.
Ich folge der Bewegung mit meinen Augen und schnappe erneut nach Luft. Seit wann haben Sicherheitskräfte keine Waffen mehr?
In dieser Zeit sollte man doch wissen, was passieren kann!
Vor mir am Zaun bleibt der Mann schließlich stehen und hebt erwartungsvoll die Augenbrauen. Grade als ich meine Stimme wiedergefunden habe und zu sprechen ansetze, holt er in einer raubtierartigen Geste aus.
Seine Hand prallt mit solch einer Wucht auf meine Wange, dass ich den Schmerz erst gar nicht spüre. Entsetzt sehe ich dem Mann nach, der seine Sonnenbrille auf die Bühne wirft, über den Zaun springt und sich durch die Menschen kämpft.
Die anderen Sicherheitskräfte blicken ihm verwirrt nach, rühren sich aber nicht vom Fleck. Doch das ist nicht das Einzige, worauf ich mich gedanklich konzentrieren muss. Das Gesicht des Mannes.
Es war so... furchtbar vertraut.
Wenn es stimmt, was ich denke, bricht hier grade nicht nur meine Hoffnung zusammen, dass das Konzert ruhig und fabelhaft wird, sondern auch die gute Erinnerung an eine ganz bestimmte Person von früher.

„Daddy?"

Es ist nicht mehr als ein Hauchen, welches über meine Lippen kommt, und natürlich hat er es nicht gehört.
Mit vor Entsetzen leicht geöffnetem Mund lege ich meine Hand auf meine brennende Wange und starre ihm nach, bis mein Bewusstsein sich meldet und mir sagt, dass die anderen Sicherheitskräfte immer noch stumm dastehen.
Das darf doch nicht wahr sein.
Wild gestikulierend schreie ich einem der Männer zu, was ich weiß, und boxe dann Su und Roy in die Seite, die wie erstarrt sind.

„Roy, du übernimmst die linke Seite der Halle. Alle aus den ersten Reihen, die dir tapfer vorkommen, schickst du rein, die sollen alle nach draußen treiben. Die, die am zusammenbrechen sind, schickst du mit einem Stabilen raus, okay? Su, du übernimmst das Gleiche auf der anderen Seite. Ich geh da jetzt rein." Mit entschlossenem Blick drehe ich mich von der Bühne weg, der Quelle allen Übels entgegen.
„Amari!", hält mich die panische Stimme von Su ab, „Das meinst du doch nicht ernst?!" Sie schaut in die Richtung, in die ich gehen will, und einen Moment lang bin ich erleichtert, dass sie nicht ihre eigene Aufgabe meint.
„Wenn ich mit meinem Leben andere retten kann, sterbe ich lieber, als dabei zuzusehen, wie Massen sterben", meine ich tonlos und gehe dem Mittelpunkt der Halle viel zu viele Schritte entgegen.
Das einzig Praktische daran ist wahrscheinlich, dass mich niemand daran hindert und ich mich nicht durch zusammengedrängte Menschen kämpfen muss, weil alle den Ausgängen entgegeneilen. Ein letzter Blick zurück verrät mir, dass Su und Roy bereits losgegangen sind.
Zwar weiß ich nicht, ob sie meinen Auftrag erfüllen werden, aber so oder so müssen sie hier raus, dem rettenden Freien entgegen.
Pentatonix, die von dort oben eigentlich die beste Übersicht haben müssten, singen immer noch, auch wenn ich mir einbilde, den Anflug eines Zitterns in Mitchs Stimme zu hören. Scott wirft ihm einen langen, intensiven und beinahe trauernden Blick zu, wendet sich aber wieder der panischen Menge zu und singt weiter.
Kirstie bricht fast zusammen, ebenso ihre Stimme, doch Kevin hält sie auf den Beinen. Alle sind leichenblass.
Als ich mich wieder zum Ende der Halle umdrehe, sehe ich, weshalb.
Ganz hinten stehen zwei schwarz vermummte Personen, die ein Plakat in die Höhe recken.
Die Worte lassen mir das Blut in den Adern gefrieren.

Singt um euer Leben.

Mehr nicht.
Einfach die Worte, weiß auf blutrot, glänzend und deutlich sichtbar im Schwarzlicht.
Alles in mir bricht zusammen, auseinander, durcheinander.
Alles ist verloren.
Wenn ich fliehe, wenn ich das hier überlebe, wird Pentatonix sterben und somit einer der wenigen Lichtblicke in meinem Leben.
Wenn ich sterbe, wird das nicht passieren.

Oder alle überleben.

Mit entschlossenem Blick und zitterigen Knien wende ich mich wieder der Bühne zu und ziehe mir die Kapuze von meinem dünnen, grauen T-Shirt über den Kopf.

Mit etwas Glück kommen wir hier alle lebend raus.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt