9. Kapitel

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Mit jedem Schritt scheint mein Körper schwerer zu werden.
Es sind nur ein paar Meter, die ich eben gegangen bin und jetzt zurücklegen muss, doch an genau denen scheitere ich jetzt, wo sie mir eben doch so leicht vorkamen.
Verrückt. Ich kann schon längst ohne zu zögern in die tödlichste Richtung bei einem Anschlag gehen, aber das Gegenteil fällt mir schwer.

Noch ein Schritt.

Neben, vor, hinter mir stolpernde, panisch fliehende Menschen, die mir das Laufen erschweren.

Ein Stoß von hinten.

Ich verliere das Gleichgewicht, halte mich an jemandem fest, ziehe mich wieder hoch und laufe weiter. Automatisch fange ich an, meine Unterlippe, die nun wirklich nichts für dieses Chaos kann, zu malträtieren.

Nächster Schritt.

Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt wie in diesem Moment. Hinter mir schreien Menschen in ihrem Kampf ums Überleben.
Und ich?
Ich wende mich von ihnen ab, von hunderten, um fünf Sänger zu retten.
Beinahe kommt ein spöttisches Schnauben über meine Lippen, doch davor wende ich mich wieder zwanghaft meinem Vorhaben zu.
Es ist so lächerlich.

Stolpernde Schritte nach vorne, weil hinter mir ein wildes Drängeln beginnt.
Jetzt kommt also wohl die Phase, in der niemand etwas kontrollieren kann.
Weder die Angreifer, noch die Sicherheitskräfte.
Wobei die ja von Anfang an versagt haben.
Ich beginne, zu rennen, zwänge mich durch die Masse, will einfach nur zur Bühne, doch komme immer wieder von meinem schnurgraden Weg ab.
Als ich zum nächsten Mal aufblicke, stehe ich am rechten Rand der Bühne. Meine Hände schließen sich fest um das kühle Metall der Abgrenzung, ich schaue mich um, die Sicherheitskräfte sind verschwunden.
Einige verängstigte Blicke ruhen auf mir, doch die Leute stürzen in einem gleichbleibenden Tempo weiter.

Nun kommt es darauf an.

Das hier ist so gefährlich wie noch nie.
Ich begebe mich auf die absolute Zielscheibe, auf den Präsentierteller, und zwei der Attentäter werden mich garantiert immer im Blick haben.
Zwar weiß ich nicht, ob die Plakatträger gute Schützen sind oder überhaupt Waffen tragen, aber möglich ist alles - Und das sollte ich keinesfalls unterschätzen.
Gedanklich zähle ich von drei bis null, dann schwinge ich erst ein, dann das andere Bein über den Zaun und ducke mich sofort dahinter.
Hoffe, dass mich niemand von ihnen gesehen hat.

Sonst bin ich jetzt schon ein begehrtes Opfer geworden.

Mitch bemerkt mich als Erster.
Ich lungere immer noch zwischen Zaun und Bühne herum, bin mir zum ersten Mal heute verdammt unsicher, was ich tun soll.
Doch seine weit aufgerissenen Augen, die in diesem Moment nur mich sehen, nur mich, sind ausschlaggebend.
Ohne zu überlegen stürme ich los.
Das mir wohlbekannte Gefühl von einer Überdosis an Adrenalin durchfährt mich.
Mein Herz klopft kräftig, meine Beine und Hände zittern, als ich die vier Stufen zur Bühne in zwei Schritten hoch renne.
Einen kurzen, orientierenden Blick später, zerre ich Mitch aus dem Bühnenausgang am Rand und winke die anderen hinter mir hier, die sich nicht zweimal bitten lassen, weil sofort die erwarteten Schüsse fallen.
„Mitkommen", rufe ich mit brechender Stimme über den Lärm hinweg.
Kirstie atmet deutlich hörbar und hektisch zwischen ihrem Schluchzen und ist inzwischen noch blasser, auch die anderen haben eine ungesündere Hautfarbe als eben noch.
Kevin schmeißt achtlos sein Mikrofon weg, kaum dass er die Bühne verlassen hat, und schließt die zitternde Sängerin in seine muskulösen Arme.
Mitch blickt mich durch seine tränenverschleierten Augen so verängstigt an, dass ich selbst Angst bekomme, Angst vor dem, was passieren kann.
Scott beobachtet mich sichtbar beunruhigt, wippt vom einen Fuß auf den anderen und achtet haargenau darauf, dass ich Mitch nicht mehr zu nahe komme.
In seinem Gesicht lese ich, dass er nur zu gerne jeden Moment abhauen würde, doch in seinen Augen sehe ich die viel zu große Furcht vor genau dem.

Er denkt, dass ich ihn umbringen will. Was habe ich nur getan.

Sie halten mich für ein Monster.
Avi steht mit gesenktem Kopf hinter allen und legt sein Mikrofon bedacht vorsichtig auf den Boden, als würde es gleich zerbrechen.
Dann aber sehe ich, wieso seine Gesichtszüge so versteinert ruhig sind, wieso er sich so viel Zeit lässt und sich bemüht, ruhig zu bleiben.
Seine Hand zittert, als er sich aufrichtet und mir einen fragenden, flehenden Blick zuwirft.
Er hat Angst.

Angst, das alles zu verlieren.
Angst, zu versagen, die anderen Sänger nicht beschützen zu können.
Mein Herz blutet, als ich die allgegenwärtige Furcht vor dem Sterben wahrnehme, und ich wünsche mir, dass ich ihnen alles erklären kann, doch es geht nicht.
Meine Stimme, das Adrenalin, das Rennen, welches ich jetzt beginne, würden es nicht zulassen.
Ich weiß nicht, ob das hinter uns Schritte sind, als ich uns durch das Labyrinth der Gänge führe.
Ich weiß auch nicht, wie gut die Attentäter sich hier auskennen, nur von einem weiß ich, dass er dieses Gebäude kennt wie seine Westentasche.
Der Gedanke an den Mann, der für mich wie ein Vater war, zerreißt mich innerlich und ich muss blinzeln, um nicht zu weinen.

Himmel hilf, wo bin ich hier nur hineingeraten.

Ein trockenes Lachen kommt über meine Lippen und plötzlich weiß ich ganz genau, wo wir hinmüssen. Es gibt einen Teil des Backstagebereichs, den er nicht kennt.
An der nächsten Kreuzung der Gänge biege ich scharf nach links.
Ich werde Pentatonix nicht ins Freie bringen, damit rechnet er doch nur.
Das war immer seine Taktik früher. Jeden nach draußen schicken.
Keuchend bleibe ich stehen, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt. Ich habe Su und Roy losgeschickt, um Menschen zu retten.
Stattdessen führen sie sie ins Verderben. Er weiß doch genau, wie sich solch eine Massenpanik auf das logische Denken auswirkt.
Menschen sind, so dämlich es manchmal klingen mag, immer noch Fluchttiere.
Sie fliehen vor dem, wovon sie denken, dass es die Gefahr ist.
Dass etwas ganz anderes, Schreckliches auf sie wartet, können sie in dem Moment doch nicht erahnen.

Weiter. Wir müssen das hier überleben.

Die Gänge reihen sich ewig aneinander, es gibt kein Ende, und grade, als ich glaube, den Überblick verloren zu haben, taucht das Ziel auf.
Davon kann er nicht wissen.
Es ist unmöglich.
Nicht mal die Presse kennt diesem Raum, er wurde erst vor wenigen Tagen fertiggestellt - Einzig und allein die wichtigen Darsteller der Opern, die in diesem Gebäude stattfinden, wissen von seiner Existenz.
Und da auch meine Pflegemutter regelmäßig große Rollen in diesen Hallen übernimmt und Angst davor hatte, dass ich einem Anschlag zum Opfer falle, hat sie mich eingeweiht.
Mein Glück. Unser Glück.

Ich taste mich an der Wand entlang, suche die eingebaute Tür, sie muss hier irgendwo sein.
Endlich, endlich finde ich die schmale Einkerbung, quetsche meine Finger in den winzigen Spalt und finde den kleinen Knopf, kaum größer als der Nagel meines kleinen Fingers, den ich atemlos drücke.
Lautlos schwingt die Tür auf, die ich viel größer erwartet hatte. Es muss reichen.
„Rein hier!", zische ich und blicke mich um, in meiner nicht endenden Angst, entdeckt zu werden.
Schluchzend stolpert Kirstie hinter Kevin in die Dunkelheit des Raumes, der sich hinter der Tür befindet.
Auch Scott nimmt Mitch mit, ihnen folgt Avi, der mich mit einem unergründlich tiefen Blick ansieht.
Ich setze den ersten Fuß auf die hochgelegene Schwelle, als mich etwas davon abhält.

„Wen haben wir denn da..."

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt