17. Kapitel

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Die Aufregung in mir verwandelt sich in schonungslose Übelkeit, als ich die Tür zu meinem Zimmer mit zitternder Hand öffne.
Die gebundenen Seiten in meiner anderen Hand fühlen sich schwer an, als hätte ich mich verbrannt lasse ich sie auf die weiße Matratze fallen.
Mir ist kalt.
Mit geschlossenen Augen atme ich für einige Sekunden tief durch, dann lege ich mich neben die Zeitschrift und wickele meinen Körper fest in die Decke ein.
Was, wenn ich wieder so durchdrehe?
Wenn ich noch nicht bereit bin?
Mit plötzlicher Entschlossenheit greife ich nach dem Heft und starre das Titelblatt an.
Das Bild eines wahrscheinlich viel zu gut bezahlten Supermodels ziert es, obwohl die Frau absolut nichts mit dem Inhalt des Hefts zu tun hat.
„Konzerte - Was ist noch sicher?", „Wie umgehen mit Anschlagsopfern?", „Sicherheit an öffentlichen Plätzen" und zu guter Letzt „Pentatonix im Interview" steht in kleinen Kästchen auf dem Blatt, dazu die Seitenangabe.
Ich will nicht wissen, was die Sänger erzählt haben, und doch will ich meine Erinnerung wiedererlangen.
Mit zum Zerspringen schnell klopfendem Herzen schlage ich das Heft auf.
Nächste Seite.
Die Inhaltsangabe, ein Kommentar des Redakteurs und billige, kitschige Bilder, die überhaupt nichts aussagen.
In dicken Buchstaben machen sich die Titelthemen bemerkbar.
Obwohl ich auch schon vorher nach der Seite geschaut habe, muss ich mir die zweistellige Zahl noch einmal anschauen, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich existiert.
Dass ich sie mir nicht eingebildet habe.
Mit zitternden Fingern blättere ich weiter, immer weiter, bis ich die Farben bemerke. Mein Blick wandert an den unteren Seitenrand, wo schwarz auf weiß die Zahl 65 prangt.
Was mache ich hier nur.
Was machen sie hier nur.
Wieso lassen sie sich über so etwas auch noch ausquetschen, von Reportern, die doch immer nur eine Attraktion haben wollen, die sie für viel Geld verkaufen können.
Zusammenhangslose Bilder mit zusammenhangslosen Fragen, um an Informationen zu kommen.
Ich schlucke meinen Hass hinunter und widme mich dem kleinen Text vor dem Interview, obwohl mir eiskalt ist und ich Angst habe.

Verdammt viel Angst.

Vergangenen Samstag erfolgte ein weiterer Anschlag. Während einem Konzert der bekannten A-Capella-Gruppe Pentatonix stürmten Attentäter die Halle und schossen auf die Fans, die sich zu tausenden versammelt hatten. Auch außerhalb der Halle fielen Schüsse. Die Sänger berichten in einem exklusiven Interview über die grausame Erfahrung.

Ich hasse diesen Text jetzt schon.
Exklusiv?
Widerlich.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, wende ich meine Aufmerksamkeit nun wirklich der ersten Frage zu, ohne große Hoffnung auf guten Inhalt.

FiM: Wie war es für euch, einen Anschlag zu erleben?
Avriel Kaplan:
Es ist natürlich nichts, was man gerne erleben möchte. Dennoch muss man als Sänger damit rechnen, und wir hatten dieses Mal wirklich sehr viel Glück, wofür wir alle sehr dankbar sind.

Wann habt ihr gemerkt, dass Attentäter in der Halle waren?
Kevin
Olusola: Genau wie unsere Fans wahrscheinlich erst, als die ersten Schüsse gefallen sind. Ab diesem Moment waren wir alle wie gelähmt, aber natürlich haben wir trainiert, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten müssen.

Sie wussten also, wie man sich verhalten soll?
Dass ich nicht lache.
Sie waren da oben so verloren wie Rehkitze ohne ihre Mütter.

Wie solltet ihr euch denn verhalten?
Scott Hoying:
Das sind Sicherheitsvorkehrungen, die wir leider nicht an die Presse weitergeben dürfen. Aber natürlich muss man darauf achten, dass man nicht durchdreht, denn auf der Bühne ist man immer für alle präsent, und als Vorbild für die Fans wäre das nicht so vorteilhaft, wenn wir kollabieren.

Es wirkt alles so aufgesetzt.
So auswendig gelernt.
So absolut nicht real.

Ihr wurdet erst später aus der Halle gerettet. Wieso das?
Mitchell Grassi:
Das zählt wieder zu den Dingen, die wir leider nicht weitergeben dürfen. Wir können nur sagen, dass wir in Sicherheit waren und es so ein gutes Ende gab, und das ist doch die Hauptsache.

Nein.

Sie haben meinen armen, kleinen Mitchy nicht im Ernst Mitchell genannt.
Und Ende?
Das glaubt Mitch doch wohl selbst nicht.

Avi, du hast nach dem Anschlag ein Mädchen aus der Halle getragen. Wie stehst du zu ihr?
Avriel Kaplan:
Ich kenne sie nicht, aber irgendwer muss sich doch um seine Fans kümmern, nicht wahr? (zwinkert)
Kirstie Maldonado: Keiner von uns kennt dieses Mädchen, und auch dazu wird es keine weiteren Kommentare geben.

Eine Frage hätten wir noch: Stimmt es, dass sie euch das Leben gerettet hat?

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt