23. Kapitel

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Mit flachem Atem lege ich den Brief wieder in die Schatulle und schließe den Deckel.
Kurz muss ich die Augen schließen, um mich wieder zu besinnen, es kann doch nicht sein, dass sie schon vor 17 Jahren damit gerechnet hat, zu sterben.
„Ist alles in Ordnung? Können wir fortfahren?", fragt der Notar und ich nicke, während ich nervös auf meiner Unterlippe kaue.
„In diesem Heft stehen jegliche Kontakte Ihrer Mutter, die sie im Notfall kontaktieren können. Ihre Mutter meinte, dass jeder von ihnen bestimmt bereit wäre, Sie für einige Zeit bei sich aufzunehmen, bewahren sie es also gut auf, sie hatte gute Freunde in vielen Ländern", sagt der Mann zwinkernd und überreicht mir ein schlichtes, schwarzes Heft, welches ich einfach zu der Schachtel lege.
Es bringt doch nichts, wenn ich meinem Gehirn in solch einem Zustand mit dutzenden Namen und Adressen zustopfen will.
„Dieser Schlüssel gewährt Ihnen den Zutritt zu dem Apartment, in dem Sie früher gelebt haben. Es ist seit ihrem Tod unberührt geblieben, wenn man mal von den Anwälten und so weiter und so fort absieht, die alle Notwendigkeiten durchführt haben. Nun, das war es dann auch schon mit den materiellen Dingen. Die Wohnung gehört natürlich Ihnen, wenn Sie dort einziehen möchten bin ich gerne bei den anstehenden amtlichen Sachen behilflich. Können wir uns nun dem Geld widmen?" Ich schlucke.
Unsere frühere Wohnung. Ob ich sie jemals wieder betreten kann?
Ich war doch erst drei Jahre alt.
„Okay", sage ich nur mit bebender Stimme.
„Ich war vor dem Termin bei der Bank und habe alles regeln lassen sowie einen Kontoauszug mitgebracht. Die Summe kenne ich nicht, das geht wie immer nur Sie etwas an", erklärt der Notar mit professioneller Stimme.
Nervös starre ich den kleinen Zettel an, der mein ganzes Leben sofort ändern wird.
Wahrscheinlich.
Langsam entziehe ich ihn dem Mann, welcher mich mit vollkommen neutraler Miene ansieht.
Nur der Anflug eines Lächelns durchbricht seine kühle Maske, als mir die Gesichtszüge wegen dieser Summe vollkommen entgleisen.
„Das kann doch nicht stimmen!", protestiere ich fassungslos.
„Wie gesagt, ich kenne die Summe nicht, aber ich kann mir den Betrag gut vorstellen. Ihre Mutter war eine der erfolgreichsten Schauspielerinnen an der Oper, und somit eine der wenigen, die damit wirklich gut leben konnte. Die Wohnung hatte sie ebenfalls geerbt, weshalb keine weiteren Mietkosten anfielen, was sich natürlich positiv auf ihren Kontostand ausgewirkt hat. Sie wissen doch bestimmt, wie viel eine einzige Karte für eine Oper einbringen kann", lächelt der Mann und ich nicke perplex.
Nicht nur das weiß ich, sondern auch, wie wenig Schauspieler bekommen können, für so aufwendige Rollen.
Meine Pflegemutter hatte nach dem Tod meiner Mutter zwar auch einen unglaublichen Durchbruch, aber sie hat mir von der vorherigen Zeit genug berichtet.
„Wenn wir jetzt noch das Formelle regeln könnten, dann gehört alles wirklich Ihnen. Es sei denn, sie haben jetzt noch Fragen?"

Benommen stehe ich nach einer weiteren halben Stunde auf.
„Auf Wiedersehen", sagt der Mann freundlich lächelnd und ich schüttele seine Hand, bevor ich den Raum verlasse und hoffe, dass ich so schnell nicht mehr zum Notar muss.
Auf dem Weg zu meiner Pflegemutter schlägt mir die Tasche mit dem kleinen Kästchen immer wieder gegen den Oberschenkel und erinnert mich daran, dass alles anders ist.
Der Schlüssel rutscht unter die Schachtel und sticht bei jedem weiteren Schritt schmerzhaft in mein Bein, wie um mich daran zu erinnern, dass ich im Besitz einer ganz bestimmten Wohnung bin.
Den Kontoauszug mitsamt den anderen Dokumenten halte ich krampfhaft in beiden Händen, während ich starr geradeaus schaue.

Wortlos steht meine Pflegemutter auf, als ich in Sichtweite komme.
„Alles okay bei dir?", fragt sie vorsichtig lächelnd.
Ich nicke und kaue auf meiner Unterlippe herum, während ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz weit weg bin.
Wie viel es wohl kosten wird, mit Pentatonix um die Welt zu reisen?


SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt