22. Kapitel

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Schweigend sitze ich neben meiner Pflegemutter und warte.
Darauf, dass mir nun endlich eröffnet wird, was ich geerbt habe.
Was mir meine Mutter hinterlassen hat.
Meine Hände liegen zitternd auf meinen übereinandergeschlagenen Beinen, während ich auf das grüne Bild an der gegenüberliegenden Wand anstarre, als wäre ich hypnotisiert.
„Bist du nervös?", fragt sie und ich zucke nur mit den Schultern.
Sie kennt die richtige Antwort doch sowieso.
Aber wer wäre in einem solchen Moment nicht am Durchdrehen?
„Frau Ginsers?"
Ein hochgewachsener Mann in komplett schwarzem, wahrscheinlich maßgeschneiderten Anzug betritt den Raum und sieht uns fragend an.
„Das bin ich", meine ich mit brechender Stimme und stehe auf, mich hilfesuchend nach meiner Pflegemutter umdrehend.
„Ich bin Marco von Steinfeld, Ihr Notar. Wenn sie bitte mit mir kommen würden?" Sein Blick umschließt nur mich, und so verschwindet meine Hoffnung, dass ich das nicht alleine durchstehen muss.
„Nach Ihnen", sagt er schließlich und öffnet eine schwere, hölzerne Tür.
Ich bin mir nicht sicher, was ich fühlen soll, als ich den abgedunkelten Raum betrete.
Auf dem langen, fast schwarzen Tisch liegen Stapel von Papier, und unwillkürlich frage ich mich, ob sie von ihr sind.
Von meiner Mutter.
„Setzen Sie sich doch", meint der Notar und deutet mit einladender Geste auf einen der Stühle am Kopfende. Kaum habe ich mich gesetzt, legt er ein kleines Kästchen neben mir ab und setzt sich ebenfalls.
„Sie sehen ihrer Mutter sehr ähnlich", lächelt er und betrachtet eingehend mein Gesicht. Verlegen senke ich den Kopf.
Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, noch nicht einmal meine Pflegemutter.
„Amari Carolin Ginsers", liest der Mann die oberste Zeile auf seinem Blatt vor und klopft den Stapel Papier auf dem Tisch grade.
Dann macht er eine spannungsgeladene Pause und sieht mich wieder an.
„Sie sind erst vor wenigen Tagen 18 geworden, nicht wahr? Dürfte ich kurz ihren Ausweis sehen? Die Dokumente sind streng vertraulich, ihre Mutter wollte, dass nur Sie sie jemals zu Gesicht bekommen. Ihr wäre es wahrscheinlich am Liebsten gewesen, wenn sie das Ganze ohne Notar hätte durchführen können", scherzt er, während ich in meiner Jackentasche nach meinem Ausweis krame, bis mir eine der Kanten schmerzhaft in den Finger sticht und ich ihn dem Mann endlich ausliefern kann.
„Vielen Dank", meint der nur und betrachtet kurz das Bild. Wie ich es hasse. Aber es erfüllt seinen Zweck.
„Ihre Mutter wollte, dass Sie die folgenden Gegenstände erst ausgehändigt bekommen, wenn sie volljährig sind. Neben persönlichen Dingen hat sie Ihnen eine Menge an Geld hinterlassen, welches sich durch die Zinsen auf der Bank in den vergangenen Jahren bestimmt weiter gemehrt hat. Aber dazu kommen wir später. Erbstück Nummer Eins ist dieses Kästchen." Mit ernstem Blick schiebt er die kleine Schachtel gänzlich zu mir und nickt mir fordernd zu.
Meine Finger gehorchen mir nicht und es kostet mich viel Mühe, den Verschluss zu öffnen, und als er dann den Weg zu dem Inhalt freigibt, kann ich mich kurz nicht überwinden, den Deckel anzuheben.
Als ich es doch mache, läuft mir eine Träne über die Wange.
Im Inneren liegt nichts weiter als ein gefaltetes Blatt und ein vergilbtes Foto, auf dem man ein kleines Kind in den Armen ihrer stolz grinsenden Mutter sieht. Ich muss nicht nachdenken, um zu wissen, wer das ist.

Allerliebste Amari.
Wenn du das hier in deinen Händen hältst, ist es wohl passiert. Das, wovor ich so viel Angst hatte.
Ich bin vor deinem achtzehnten Geburtstag gestorben.
Wie das passiert ist spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich habe verpasst, wie du groß geworden bist, und das ist etwas, was man keiner Mutter antut.
Auch, wenn ich es dir nicht mehr persönlich sagen kann: Ich liebe dich, mein Schatz.
Du bist seit deiner Geburt ein
so großes Stückchen Glück in meinem Leben, dass ich es mir ohne dich gar nicht mehr vorstellen kann.
Ich schreibe diese Zeilen an deinem ersten Geburtstag, und schon jetzt kann und muss ich dir sagen, dass aus dir mal etwas ganz Besonderes wird. Lebe dein Leben, Amari.
Nicht umsonst trägst du diesen Namen, vielleicht kennst du seine Bedeutung bereits.
Abgesehen davon, dass er so passend „Mond" bedeutet - Du liebst ihn jetzt schon, bis immer fasziniert, wenn er am Himmel steht - steht er auch für Stärke und Kraft, und die wirst du im Leben brauchen. Namen sind nie ohne Bedeutung, und sie sind nie einfach nur da.
Sie sind eine Bestimmung.

Du kannst es schaffen, wenn du es nur willst, egal, was es ist.

In Liebe, Mama

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt