21. Kapitel

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Ich bin geblieben.
Ich hatte verdammt nochmal Angst davor, zu gehen.
Angst davor, der Gegenwart ins Gesicht zu blicken.
Meinen normalen Weg wieder zu gehen.
Zur Schule, nach Hause, einkaufen, und so weiter.

„Du musst wieder normal weitermachen, du kannst dich nicht für immer hier verstecken", seufzt Lucia, als sie davon erfährt.
„Ich kann das aber nicht! Ich kann nicht mit dem Gewissen leben, dass ich einen Teil meines Lebens verpasst habe!", rufe ich verzweifelt.
„Hey. Wir finden schon noch eine Lösung, ja? Aber bis dahin bringt es dir nichts, wenn du nutzlos hier herum liegst", holt sie mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Ich hasse dich dafür, dass du recht hast", grummele ich und kuschele mich in meine Bettdecke.
„Weiß ich doch. Und jetzt packe deine Sachen zusammen, wir gehen." Entsetzt starre ich sie an.
„Ist das dein Ernst?", frage ich.
Gnadenlos nickt sie und zieht die Schubladen des Nachttisches auf.
„Aber ich bin noch nicht bereit!", jammere ich, stehe aber dennoch auf und helfe ihr beim Packen, weil ich nicht will, dass sie das Heft entdeckt, in dem das Bild von Avi ist, der mich trägt.
„Du wirst nie bereit sein, und? Bringen wir es einfach schnell hinter uns. Wusstest du, dass es gegenüber ein echt gutes Café gibt? Lass uns da doch noch Kaffee trinken gehen!", schlägt sie vor.
„Ich mag Kaffee nicht", sage ich und werfe schnell die Zeitschriften in den Rucksack, welchen sie mitgebracht hat.
„Ach, stimmt ja. Wie konnte ich das nur vergessen. Du hasst ihn ja... Es gibt bestimmt auch Kakao für die Kleine", meint Lucia und verdreht grinsend die Augen.
„Lass mich", murmele ich und gähne.
„Ist da etwa jemand müde? Kommt davon, wenn man die ganze Zeit nur am Gammeln ist", wirft sie mir grinsend vor, schnappt sich den Rucksack und geht zur Tür.
„Ich hasse dich!", zische ich ihr auf dem Gang immer wieder zu, bis sich die Türen des Aufzugs schließen und ich wirklich realisiere, dass das hier die Realität ist.
Ich muss hier wirklich raus, auch wenn ich nicht will.
Was nichts daran ändert, dass ich mich innerlich dagegen sträube.

„Na also, du hast es doch geschafft", meint Lucia zufrieden, als wir das Gelände vom Krankenhaus verlassen. Ich schüttele mich und lege den Kopf in den Nacken.
„Super. Wo bleibt mein Kakao?", frage ich und sehe sie hoffnungsvoll an.
„Keine Angst, die Kleine bekommt gleich was", lacht sie und wir überqueren zusammen die Straße.
„Ist es nicht süß?", wispert Lucia, als sie die bunt verzierte Tür zum Café öffnet.
Von drinnen schlägt mir kühle Luft entgegen, welche bei diesen Temperaturen ein wahrer Segen ist.
Eine zarte Gänsehaut überzieht meine Arme, als ich hinter Lucia den kühlen Raum betrete.
Überall hängen verrückte Bilder, Kissen liegen auf den Bänken, Pflanzen klettern an den Wänden empor, Zeitungen baumeln an dünnen Fäden von der Decke.
Und ich dachte, das Zimmer meiner Freundin ist verrückt eingerichtet...
Während Lucia sich einen Kaffee und mir einen Kakao holt, kämpfe ich mich durch das Labyrinth aus Zeitschriften und lese dabei die Titel.
Sie berichten schon wieder von einem Anschlag, aber was wundert mich das?
Ich war über eine Woche von der Welt getrennt, und die Zeit ist nicht stehengeblieben.
Wahrscheinlich gab es in der Zwischenzeit mehr als einen Anschlag, das wäre nichts Neues.
Solange Pentatonix nicht noch einmal angegriffen wurde.
„Alles gut bei dir?", fragt Lucia, als ich an den kleinen Tisch komme, auf dem ein Eimer mit Stiefmütterchen steht.
Ich nicke langsam und setze mich hin. Vor mir steht neben dem Kakao auch ein kleiner Cupcake, der - wie hätte es anders sein sollen - kunterbunt verziert ist.
„Wird schon wieder", lächele ich gezwungen und stütze meinen Kopf mit den Händen ab.
„Ich muss dir noch was sagen", meint Lucia und beißt sich auf die Unterlippe. Erwartungsvoll hebe ich die Augenbrauen.
„Du hast in einer Stunde einen Termin beim Notar. Wegen deinem achtzehnten Geburtstag. Deine Mutter hat gesagt, es ist wegen dem Zeug, das dir vererbt wurde."

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt