13. Kapitel

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„Hey", begrüßt mich meine Pflegemutter leise und schließt die Tür hinter sich. Ich starre aus dem Fenster, so wie jeden Tag, an dem ich dazu verdammt bin, hier zu liegen.
Ich habe angefangen, die Tage zu zählen.
4.
Angefangen, die Stunden zu zählen.
102.
Die Minuten zu zählen.
6120.
Sekunden.
367200.
„Was ist passiert?", frage ich. Die Matratze senkt sich ein wenig, doch ich drehe mich nicht um.
Sie seufzt.
Wie die letzten Male.
„Das werden sie dir schon noch sagen, wenn du bereit bist", meint sie.
„Was ist passiert?", wiederhole ich, ungeduldiger, doch den Blick wende ich noch immer nicht vom Park ab, der sich vor dem Krankenhaus erstreckt.
Wieder seufzt sie.
„Versteh es doch, es ist nur zu deinem besten." Ich schnaube.
„Besser wäre es doch, wenn ich nur einen Schock hätte, und nicht mehrere hintereinander. Wenn es so schrecklich ist, werde ich später doch bestimmt wieder einen Schock erleiden", sage ich trocken und wende mich endlich zu meiner Pflegemutter.
Sie sieht alt aus.
Mitgenommen.
Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich mir Sorgen um sie. Bis jetzt war sie immer diejenige, zu der ich gehen konnte.
Diejenige, die mir Honigmilch gemacht hat.
Diejenige, die mich getröstet hat, die stark war, die da war.
Doch jetzt sehe ich nur noch eine leblose Hülle vor mir, die dringend Erholung braucht.
„Was spielt ihr grade?", frage ich sie und setze mich im Bett etwas auf.
„Ist nicht so wichtig", murmelt meine Pflegemutter und streicht sich durch die Haare. Das macht sie nur, wenn sie gestresst ist.
„Ich komme alleine klar hier." Die Worte verlassen meinen Mund, bevor sie sich überhaupt in meinem Kopf geformt haben, doch ich bereue sie nicht.
„Amari, erwarte nicht, dass ich dich alleine lasse. Du hattest einen schweren Schock!", protestiert die Frau, welche neben mir auf dem Bett sitzt, schwach.
„Ich kann mich doch eh nicht daran erinnern! Das hier ist für mich die wohl langweiligste, nervtötendste Zeit in meinem ganzen Leben! Hey, bringst du mir morgen ein paar Zeitschriften mit?" Der letzte Satz schleicht sich ganz plötzlich in meine Gedanken, und er ist, je länger ich darüber nachdenke, richtig gut. Ich hasse es, nicht zu wissen, was in der Welt passiert.
„Oh, und es müsste ein neues Heft gekommen sein. Oder mehrere. Was war diese Woche nochmal dran? Fotografie, oder?" Begeistert versinke ich in der Hoffnung auf Ablenkung, so dass ich gar nicht merke, dass meine Pflegemutter längst mit einem dicken Heft vor meiner Nase herumwedelt.
„Meinst du das hier?", fragt sie lächelnd. Ich schnappe mir den zusammengebundenen Stapel Papier - Natürlich so ungeschickt, dass alle beigelegten Prospekte herausfallen und sich auf meinem Bett verteilen.
„Na toll", meine ich trocken und sammele ungeduldig jedes noch so kleine Blatt wieder ein.
„Ich lass dich mal in Ruhe, ja? Bis morgen", meint meine Pflegemutter und verlässt leise den kleinen Raum, während ich schon in der Welt der Fotografie versinke. In meiner ganz persönlichen Welt.

Die Visite lasse ich ungeduldig über mich ergehen, nur um mich danach wieder auf die Zeitschrift zu stürzen. Über 150 Seiten Fotografie und Prospekte, die einen zusätzlich mit starken Bildern und neuen Nachrichten aus aller Welt versorgen - Was will man mehr? Okay, Pentatonix vielleicht.

Pentatonix.

Ich blättere um, und wieder fallen mir die Prospekte entgegen.
Es ist eine reinste Plage.
Eine Lawine.
Aber eine wundervolle.

Seufzend sammele ich die kleinen Hefte wieder auf, stapele sie neu und will sie grade neben mich legen, als mir eine ganz bestimmte Farbkombination ins Auge sticht.
Gelb.
Grün.
Blau.
Rosa.
Schwarz.

Fassungslos und begeistert lasse ich die dicke Zeitschrift sinken und widme mich dem kleinen, beigelegten Prospekt.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt