16. Kapitel

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„Ich habe gehört, was gestern passiert ist", beginnt meine Pflegemutter zögerlich. Ich beiße auf meine Unterlippe und schweige.
„Willst du darüber reden?", fragt sie vorsichtig. Ich starre aus dem Fenster in die Freiheit. Wie lange bin ich schon hier? Zu lange.
Eine Woche? Länger.
„Es tut mir leid." Ihre erstickte Stimme bringt mich dazu, meinen Kopf zu ihr zu drehen. Aus geröteten Augen blickt sie mich an, eine Tränenspur glitzert auf ihrer Wange.
Ein unfassbares Schuldgefühl macht sich in mir breit und ich wende mich wieder ab, bevor sich die Tränen in meinen Augen sammeln.
„Du solltest noch schlafen. Ich lass dich mal in Ruhe, ja?", meint sie und steht auf. Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis die Tür ins Schloss fällt.
Zitternd wische ich die Tränen von meinem Gesicht.
Wieso ich, wieso ausgerechnet ich?
Es hätten nicht Su, Roy oder die anderen beiden sein können.
Es musste ich sein.
Wenigstens bin ich nicht gestorben, davon haben mich diverse Ärzte inzwischen wieder überzeugt.
Wobei das wahrscheinlich das Beste gewesen wäre.
Meinen Blick an die Decke gerichtet angele ich nach dem Heft, welches auf dem Nachttisch liegt.
Der Seite mit dem Bild ist deutlich anzusehen, dass ich schon oft auf sie gestarrt habe.
Über das Bild gestrichen.
Den Text gelesen, wieder und wieder.
Ich schlucke meine Tränen hinunter und blättere das gesamte Heft durch, bevor ich zu der Seite komme.
Avi, der dieses Mädchen trägt, dieses Mädchen, mich.
Meine Haare, die über meinem Gesicht liegen, und die Reporter im Unwissen lassen, welche Identität zu diesem leblosen Körper gehört.
Als wäre das alles genau geplant gewesen.
Aber das war es nicht.
Es ist nur eines von vielen Bildern, die einen Augenblick eingefangen haben, der berührt.
Einen Augenblick nach einem Anschlag.
Es ist ein Bild, welches ich liebe, hasse, verfluche.
Einerseits liebe ich es, weil es mir etwas zeigt. Einen magischen Moment.
Andererseits hasse ich es, weil ich mich nicht daran erinnere.
Ich war ihm so nah, ich habe ihn berührt, er hat mich getragen, gerettet.
Und doch weiß ich nichts mehr davon.
Kraftlos schleudere ich die zusammengebundenen Seiten weg, einfach hinfort von mir, ich hasse es.
Hasse sie.
Den Moment, das Krankenhaus, alles.
Ich strampele die Decke von meinem Körper, sie fällt auf den klinisch reinen Boden, ich habe viel zu viel Kraft in mir, viel zu viel Adrenalin.
Ich stehe auf, das Schwindelgefühl zerreißt mich, mir ist übel, ich kämpfe gegen das Gefühl an, mich wieder hinsetzen zu müssen und starre die Decke an.
Zum zweiten Mal seit meinem Aufenthalt setze ich einen Fuß aus meinem Zimmer.
Nur, dass diesmal kaum ein Mensch durch den Flur eilt.
Ich atme tief durch, als mich die Erinnerungen vom letzten Tag erreichen, und gehe los.
Dem Schild entgegen, welches den Weg zu den Aufzügen weist. Niemand schaut mich komisch an, niemand hält mich auf, ich fühle mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder richtig frei.
Erst, als ich in dem kleinen Raum stehe, der nur von schwachem Licht aus Neonröhren beleuchtet wird, verschwindet dieses Gefühl und ich frage mich, was das hier eigentlich soll.
Ich weiß nicht, wo ich hin will, ich weiß nicht, was mich hierher gebracht hat.
Ich weiß es einfach nicht.
Trotzdem drücke ich den Knopf mit dem leuchtenden E.
Die Türen schließen sich und lassen den Gang verschwinden, doch gleichzeitig taucht etwas anderes auf. Es ist nicht da, und doch spüre ich es.
Ich hatte noch nie Angst in engen Räumen.
Doch jetzt beschleunigt mein Atem, ich kann nicht mehr klar denken, die Wände rücken immer näher und umklammern meine Lunge, pressen die Luft aus ihr.
Ich zwinge mich, die Augen offen zu halten, die Übelkeit nicht wahrzunehmen.
Dann öffnen sich die Türen und ich stolpere aus dem Aufzug, meine Beine geben ein wenig nach.
Jetzt stehe ich, zugegeben ein wenig wackelig, in einer großen, hellen Halle. Durch deckenhohe Fenster fallen die Sonnenstrahlen und werfen ein verschwommenes Muster auf den glatten Boden.
Links von mir ist eine Ecke für Kinder, auf der anderen Seite streckt sich eine kleine Sofalandschaft entlang der Fenster aus.
Auf den Tischen liegen verschiedene Zeitschriften welche mich nahezu magisch anziehen.
Meine Schienbeine lehne ich an das Metall des Tisches, während mein Blick suchend über die Hefte gleitet.

Und dann finde ich eine Zeitschrift, vor der ich so viel Angst habe, und doch greifen sich meine Hände das Papier.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt