6. Kapitel

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Du schläfst erst mal hier. Morgen nach der Probe sehen wir weiter. Daddy hat dir noch ein paar Sachen aus eurer alten Wohnung geholt, morgen bringt er den Rest für dich. Am Sonntag ist die Beerdigung, da geht er auch noch mit dir hin. Ich hab währenddessen eine Vorführung." Die Frau musste nicht erwähnen, auf wessen Beerdigung das kleine Mädchen gehen würde, auch so bahnten sich die Tränen einen Weg über ihr Gesicht.

Wieder einmal.

„Weine nicht, Süße. Das bringt dich in dieser Welt nicht weiter. Sie werden dadurch nur erkennen, dass du schwach bist, dass sie dich ausnutzen können. Du musst jetzt stark sein, okay?" Mit großen Augen nickte das Mädchen, obwohl ihr Gesichtsausdruck noch immer Bände sprach:
Sie war verängstigt, wusste nicht, was folgen würde.
„Na komm, zieh dir deinen Schlafanzug an und komm dann nochmal zu mir in die Küche, ja? Ich mach dir einen Kakao", meinte die Frau mit einem sanften, traurigen Lächeln. Das Mädchen zog geräuschvoll die Nase hoch.
„Ich mag Honigmilch." Die Erwachsene brachte ein leises Lachen über die Lippen.
„Ich kann dir auch Honigmilch machen", meinte sie und nickte zu der kleinen Tasche, in dem die wenigen Kleider für das Mädchen waren. „Zieh dich schon mal um."
Sie wandte sich zum Gehen, nachdem sie dem Kind noch ein letztes Mal tröstend über die Wange gestrichen hatte, und öffnete die Tür des kleinen Gästezimmers.
„Kannst du warten?", meldete sich die Tochter ihrer Kollegin, besten Freundin und gleichzeitig größten Konkurrentin schüchtern.
Seufzend drehte die Frau sich um.
Das Gesicht des Mädchens war gerötet, der Bereich um ihre Augen angeschwollen von den vielen Tränen, die sie in den letzten Stunden vergossen hatte, Rotz lief ihr aus der Nase.
Der Blick auf ihre sonst so dunklen, sanften Augen wurde von neuen Tränen getrübt.
Dies war wohl der Moment, in dem der Frau bewusst wurde, dass die nächste Zeit sehr schwer werden würde.
Schon jetzt war ihre Bewunderung, die sie für die Verstorbene empfand, meilenweit angestiegen, hatte sie es in den letzten drei Jahren doch so perfekt gemeistert, ihre Tochter und den anspruchsvollen Job als Opernsängerin unter einen Hut zu bringen.

Leise singend schloss sie die Tür hinter sich.
Die Kleine schlief jetzt, unruhig, aber immerhin. Ein Blick auf die Uhr in der Küche verriet ihr, dass es bereits nach zehn war – Eigentlich hatte das Mädchen um acht schlafen sollen.
Sie verstaute die Tassen, aus denen sie vorhin noch die Honigmilch getrunken hatten, mit einem Klirren in der Spülmaschine und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Den Kopf stützte sie auf ihre eine Hand, mit der anderen angelte sie nach ihrem Handy. Gedankenverloren schaltete sie es an und las die neuen Nachrichten von ihrem Freund. Er wusste genau, dass sie jetzt eine Pflegetochter hatte – Immerhin war er es, den das Mädchen so liebevoll „Daddy" nannte. So wusste er auch, dass sie bis jetzt recht wenig mit Kindern zu tun hatte, also erkundigte er sich besorgt, ob alles in Ordnung wäre.
Mit dem Anflug eines Lächelns antwortete sie ihm, dass es alles ein wenig komisch wäre und sie jetzt schlafen gehen würde.
Nur wenige Sekunden später klingelte ihr Handy.
Er rief an, was sie furchtbar erleichterte.
Alleine würde sie das nicht lange aushalten, und sie war froh, dass sie jetzt noch mit ihm sprechen konnte.
„Wie geht es dir?", erkundigte sich ihr Freund besorgt, nachdem sie den Anruf angenommen hatte.
„Ganz gut, denke ich. Ich weiß grade nur noch nicht, wo mir der Kopf steht, aber das wird schon noch." Mit einem Gähnen stand sie auf und lief in das kleine Badezimmer. Aus dem Spiegel blickte ihr eine vollkommen übermüdete, verstrubbelte Frau entgegen.

Immer positiv denken", meinte der Mann am anderen Ende der Leitung und sie konnte das Lächeln aus seiner Stimme heraushören.
Doch auch, wenn er sie so sonst immer zum Schmunzeln brachte, an diesem Abend ließ sie sich nicht dazu bewegen, zu ernst war die Lage.
Sie seufzte.
„Mir ist heute nicht mehr nach Spaß, es tut mir leid", entschuldigte sie sich, „Meine beste Freundin ist gestorben, ich darf innerhalb von wenigen Tagen ihre komplette Rolle in der Oper lernen und mich jetzt um ihre Tochter kümmern, obwohl ich keine Ahnung von so was habe und das Kind eigentlich psychologische Unterstützung braucht, die ich ihm garantiert nicht liefern kann. Weißt du, mir wird das grade alles einfach zu viel, ich weiß nicht, wie ich mit der Kleinen umgehen soll, dazu der Stress... Ich bin froh, dass du da bist."
„Das ist doch vollkommen verständlich, Schatz. Aber denke daran, du bist unglaublich stark und wirst das meistern. Glaub mir." Ein müdes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, während sie nach ihrer Zahnbürste angelte.

Du bist unglaublich. Hast du dich nicht um die Kleine gekümmert? Wieso lässt dich das alles so kalt?", fragte sie.
In diesem Moment war sie sich dem Gewicht ihrer Worte noch nicht bewusst, ahnungslos steckte sie die Zahnbürste in ihren Mund und fing aggressiv an zu schrubben, als könne sie so den Stress des Tages abputzen.

Die haben uns in der Ausbildung trainiert, wenn ich so etwas an mich heranlassen würde wäre ich ein verdammt schlechter Sicherheitsmann. Man kann nie garantieren, dass alle lebend rauskommen, da sterben meistens welche. Wie dämlich wäre man bitte, wenn einem das nahegehen würde?" Die harten Worte ließen die Frau stocken, als sie ihren Mund ausspülte und sich dabei eine Antwort überlegte.
„Amari hat dich Daddy genannt! Du warst für sie nicht nur ein Sicherheitsmann", meinte sie und versuchte, ihre Haare durchzubürsten.
„Für ihre Mutter auch nicht", murmelte der Mann so leise, dass sie es beinahe nicht verstand.
Und doch stockte ihr der Atem.

Wie bitte?", hakte sie fassungslos nach.
Hm?" Empört stieß sie die Luft aus.
„Du hast mich schon verstanden, und ich dich eben übrigens auch. Was warst du für sie noch?", fragte die Frau und ließ die Bürste sinken.
„Schatz, ich bitte dich, ich habe nichts in die Richtung gesagt", protestierte ihr Freund.
„Was denn dann?", fragte sie kühl und funkelte ihr Spiegelbild an.
Wenn jetzt auch noch er Geheimnisse vor ihr hatte, würde sie durchdrehen.
„Ich habe mich manchmal mit ihrer Mutter getroffen, aber da war nichts weiter. Du weißt doch, wie sie war. Sie hat sich immer zu viel eingebildet. Vielleicht hat sie Amari deswegen das mit dem 'Daddy' angedreht."
Die Frau antwortete nicht. Fassungslos ließ sie ihr Handy sinken, bevor sie es noch einmal anhob und mit aller Kraft auf den Boden schmetterte.
In ihrem Gesicht war keine Regung zu sehen, als sie dabei zusah, wie das Display zersplitterte und den Fliesenboden mit abertausenden, winzigen Scherben bedeckte.
Der Mann hatte sie und ihre beste Freundin betrogen, nahm den Tod dieser einfach so hin und zeigte keinerlei Gefühle gegenüber des kleinen Mädchens.
Langsam legte sie die Bürste zurück in den Schrank.

Dabei fiel ihr Blick auf die Rasierklinge, die ihr Dasein zwischen all den anderen Dingen fristete.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt