19. Kapitel

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Schweigend liest sie sich das Interview durch, die Seite ist dank meinen Wurfkünsten natürlich noch offen gewesen.
Immerhin ist es wirklich bis in die Ecke geflogen und nicht der normalen Eigenschaft von Papier gefolgt und dämlich herumgesegelt.
Was dennoch nichts an der Tatsache ändert, dass Lucia mehr und mehr ihrer natürlichen Hautfarbe verliert.
„Sag mir, dass das alles nicht wahr ist", sagt sie nach einiger Zeit und hält fassungslos die Zeitschrift in die Höhe.
Schweigend sehe ich sie an.
„Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung."
Lucia, die inzwischen schon fast der Wandfarbe Konkurrenz macht, lässt sich neben mich auf das Bett sinken.
„Jetzt weiß ich, was du meinst."
Nachdenklich sieht sie mich an und nickt dabei.
„Womit?", frage ich ahnungslos.
„Mit allem. Dass du aufhörst. Ich würde auch erst Antworten haben wollen", grinst sie.
Als sie wieder ernst wird, drängen sich aber auch die negativen Seiten meines Plans wieder in den Vordergrund.
„Und wie willst du das mit dem Geld anstellen?", fragt Lucia in genau diesem Moment. Seufzend starre ich die Decke an.
Ich habe keine Ahnung.
Theoretisch hat meine Pflegemutter mehr Geld als genug, aber nach diesem Konzert würde sie diese Idee garantiert nicht mehr billigen.
Auch meine Mutter hat mir Geld hinterlassen, doch das wird mir erst an meinem 18. Geburtstag zur Verfügung gestellt, nichts für eine schnelle Umsetzung also.
„Das ist der große Haken", sage ich und schwinge mich neben sie.
„Kannst du nicht deine Pflegemutter... Okay, nein, kannst du nicht", stellt sie fest.
„Wann habe ich Geburtstag?", murmele ich nachdenklich und ernte dafür einen verwunderten Blick.
„Am Fünften, wieso?" Ich verdrehe die Augen.
„So weit war ich auch schon. Der wievielte ist heute?", hake ich nach.
„Äh. Lass mich überlegen..."
„Das ist richtig typisch! Wie kannst du nicht wissen, welcher Tag heute ist?", lache ich. Lucias Tücke, nie zu wissen, welchen Tag wir haben, nervt mich schon seit der vierten Klasse.
„Du weißt es doch auch nicht!", protestiert sie.
„Ich liege hier in einem Krankenhaus, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Ich weiß noch nicht mal, ob heute Montag oder Donnerstag oder sonst was ist, hier vergisst man die Zeit viel schneller!", verteidige ich mich. Außerdem bin sonst immer ich es, die das exakte Datum sagen kann, wenn ich es einmal nicht weiß ist es ja wohl kein Weltuntergang.
„Wann war das Konzert?", frage ich hoffnungsvoll.
„Vor elf Tagen. Oder so", sagt Lucia mit einem schiefen Grinsen.
„Okay, das war am 27. Mai. Jetzt müssen wir doch nur noch rechnen!", meine ich und sehe sie strahlend und wartend an.
In Mathe bin ich seit der Oberstufe eine absolute Niete, wohingegen Lucia ein allwissender, ultraschneller Taschenrechner zu sein scheint.
„Wie viele Tage hat der Mai?", fragt sie jetzt jedoch nur hilflos.
Ich lasse mich stöhnend rückwärts auf das Bett fallen.
„Das kann doch nicht wahr sein! Lucia! Wende doch deinen tollen Trick an, meine Güte!", beschwere ich mich.
Kurz darauf legt sich konzentrierte Stille über den Raum, bevor Lucia begeistert jubelnd aufspringt.
„Einunddreißig!", strahlt sie mich an.
„Na, dann viel Spaß beim Rechnen", lächele ich fordernd.
„Äh. Du bist auch nicht böse, ja?", fragt sie zerknirscht.
Ich schüttele verwirrt den Kopf.
„Wieso sollte ich?"
„Heute ist der Sechste", kommt die Antwort.
Ich öffne den Mund, um zu reagieren, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken.
„Wie bitte?", frage ich schließlich schluckend.
„Heute ist der Sechste. Hey, alles Gute nachträglich!"

Faszinierend.
Ich habe meinen achtzehnten Geburtstag verpasst.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt