53. Kapitel

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„Nicht persönlich?", hake ich fassungslos nach. Natürlich habe ich gefragt, weil es mir logisch schien. Aber mit so einer Antwort habe ich dann doch nicht gerechnet.
„Ich organisiere ihr Konzert morgen ein wenig mit. Sie treten hier auf", erklärt Timothy schmunzelnd, als er meine Reaktion sieht.
„Ich weiß. Ich gehe hin", meine ich und starre aus dem Fenster. Das muss erst mal verdaut werden.
„Wenn du magst, kann ich versuchen, dich in den Backstagebereich zu schmuggeln", lacht er.
Soll ich?
Soll ich es jetzt schon wagen?
Es wären nur noch drei Konzerte so.
Dann würde ich sie ohnehin sehen.
Bin ich jetzt schon bereit?
„Da musst du so lange überlegen? Das hätte ich nicht gedacht! Aber es ist ja erst morgen, du kannst mir später noch Bescheid geben", lacht Timothy.
„Die Umstände sind... Sagen wir, anders. So würde ich wirklich gerne, aber erstens habe ich in Seoul sowieso ein VIP-Ticket, und ich weiß nicht... Ich weiß nicht, ob ich das jetzt schon überleben würde", sage ich mit einem schiefen Grinsen.
„Wir sind gleich da. Trinkst du Kaffee?", fragt Timothy und obwohl er übergeht, was ich eben gesagt habe, weiß ich instinktiv, dass er es weder vergessen noch verdrängt hat.
„Nicht so spät", sage ich und ernte einen verständnisvollen Blick.
„Ich auch nicht. Tee?", grinst er und biegt in diesem Moment in eine Einfahrt.
„Gerne", meine ich und lasse meinen Blick durch das Parkhaus schweifen, bevor ich aussteige und meine Taschen aus dem Kofferraum zerre.
„Wir müssen ganz nach oben. Keine Angst, der Aufzug ist nicht kaputt. Ausnahmsweise", sagt Timothy und verdreht die Augen, während ich innerlich aufstöhne.
„Kannst du meine Koffer nehmen? Ich habe Platzangst. Das wird nichts mit Aufzug fahren", seufze ich. Hoffentlich sind es nicht über zehn Stockwerke.
„Du willst achtzehn Stockwerke Treppen laufen? Na dann, viel Spaß dabei!", gluckst er und zerstört meine Hoffnung.
„Ich hasse mein Leben!", rufe ich und mache mich geschlagen daran, die ersten Stufen zu erklimmen. Wenn ich Glück habe, komme ich dann noch vor Mitternacht an.

„Hey, du bist echt schnell!", staunt Timothy, der mich gefühlte Stunden später mit einer Stoppuhr in der Hand im achtzehnten Stock empfängt.
„Fünfzehn Minuten und dreiundfünfzig Sekunden. Der Tee dürfte jetzt auf jeden Fall nicht mehr ganz so heiß sein." Mit diesen Worten stößt er die Tür zu seinem Appartement auf und lässt mich hinein.
Irgendwie wundert es mich nicht, dass die gesamte Außenwand im Wohnzimmer verglast ist und man von der schneeweißen Theke in der Küche ungefähr ganz Hong Kong überblicken kann.
Timothy ist entweder froh, dass ich nichts sage, oder es fällt ihm selbst nicht mehr auf, dass seine komplette Wohnung in einem Katalog zu finden sein könnte.
„Dann erzähl mal. Was ist dein Problem mit Pentatonix?"
Ich starre auf die lauwarme Tasse Tee in meinen Händen.
„Ich weiß es nicht genau. Aber was ich weiß, ist ziemlich... Aufwühlend für mich", fange ich unsicher und schon wieder schief grinsend an. Kirsties Lächeln ist wohl hochansteckend.
„Immer her mit den verrückten Geschichten. Ich entscheide dann, was mir glaubwürdig erscheint. Glaub mir, das habe ich gelernt in der Musikbranche", schmunzelt Timothy und schaut mich erwartungsvoll an.
„Du hast wahrscheinlich mitbekommen, dass es in Frankfurt einen Anschlag auf Pentatonix gab. Tja, bei dem Konzert war ich dabei. Und weil ich immer diesen dämlichen Tick habe und versuche, Leute bei Anschlägen zu retten... Ich habe es bei Pentatonix versucht. Bei Mitch, Scott, Avi, Kevin und Kirstie. Glaube ich. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung."
„Und jetzt nochmal in langsam und das, was du sicher weißt", sagt Timothy seelenruhig. In seinem früheren Leben war er wohl Therapeut. Oder man braucht das in der Musikbranche auch.
Avi.
Oh Gott, hoffentlich nicht.
„Alles, was ich ganz sicher weiß? Ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es dort hin geschafft hatte, und niemand hatte Lust, es mir zu sagen. Ich hatte einen Schock. Als ich das erfahren habe, bin ich erst halb durchgedreht, weil ich hätte schwören können, dass ich angeschossen wurde. Dann habe ich die ganze Zeit von grünen Augen geträumt und einem kleinen Raum mit fünf Leuten, bis ich realisiert habe, dass die Augen von Avi stammen und die anderen wahrscheinlich... Naja, eben die anderen sind. Ich habe mir fast schon gedacht, dass an dem Tag ein Anschlag war, aber als ich es gesehen habe... Das war noch mal etwas ganz anderes. Weißt du, ich fotografiere unglaublich gerne. Ich habe dieses kleine Heft in meiner Fotozeitschrift gesehen und es durchgeblättert, vollkommen ahnungslos, und dann habe ich Avi gesehen, der jemanden im Arm trägt. Und dazu war ein Artikel abgedruckt, in dem es darum ging, dass ein Anschlag auf Pentatonix verübt wurde. Ich habe nachgeschaut, in anderen Magazinen, auch wenn mein Gehirn geschrien hat, dass ich es lassen soll. Und dann habe ich dieses eine Interview gefunden, in dem sie gefragt wurden, ob es stimmt, dass... sie von jemandem gerettet wurden. Ich habe die Antwort nicht gelesen."
„Willst du sie wissen?"

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt