31. Kapitel

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Nachdem ich meiner besorgten Mutter und nicht weniger durchgedrehten Freundin
geschrieben habe, dass es mir gut geht und ich nur dezent nervös war, schaue ich zum ersten Mal richtig auf die Uhr. Es ist Zwölf, was mich ehrlich gesagt nicht wundert, als ich alle anderen Nachrichten seufzend ignoriere und an meinem Laptop nach Ausflugszielen suche. Entgegen meiner Erwartungen finde ich tatsächlich mehrere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erwecken. Fast bin ich enttäuscht, dass ich nur noch zwei Tage Zeit habe, dann besinne ich mich und beschließe, mir meine Kamera zu schnappen und der Burg Osakas einen Besuch abzustatten.

Strahlend und so glücklich wie ein kleines Kind an Weihnachten laufe ich eine Allee entlang auf die Burg zu. Meine Kamera fest umklammert bleibe ich immer wieder stehen und schieße Fotos, bis meine Finger wehtun. Die Blätter der Kirschbäume färben sich langsam gelb und feuerrot und das Sonnenlicht, welches durch die Baumkronen dringt, lässt alles erstrahlen. Der Burg im Hintergrund schenke ich anschließend meine volle Aufmerksamkeit, immerhin steht das Gebäude nahezu gebieterisch in der Stadt und sieht dabei fantastisch aus. Und der Gedanke daran, dass Pentatonix sich einen solchen Ort theoretisch gar nicht entgehen lassen kann, jetzt, wo der Teil der Tour vorbei ist und sie Zeit haben, macht sich auch nicht schlecht.
Der gepflasterte Weg ist menschengefüllt, zarte Sonnenschirme scheinen über ihren noch zarteren Besitzerinnen zu schweben und zum ersten Mal überhaupt überlege ich, ob ich mich nicht langsam doch mit Porträtfotografie beschäftigen sollte. Ich fotografiere immerhin seit meinem dreizehnten Lebensjahr, seit ich an meinem Geburtstag eine Kamera geschenkt bekommen habe, und von Anfang an habe ich mich dagegen gesträubt, Menschen auf meinen Bildern zu verewigen.
Aber jetzt schwebt ein gewisser Reiz in der Luft, die Landschaft passt, das Licht ist faszinierend, und die kirschroten Schirme sehen so zart und gebrechlich aus, dass ich am liebsten zu einer der jungen Frauen gehen und sie fragen würde, ob ich sie fotografieren darf.

Auf dem Rückweg atme ich tief durch und gehe trotz meiner anfänglichen Unsicherheit zu einem jungen, kleinen Mädchen, welches unglaublich ruhig und gelassen die Menschen beobachtet, welche kommen und gehen.
Nachdem sie tatsächlich zugestimmt hat und ich sie einige Male fotografiert und gefragt habe, ob ich die Bilder veröffentlichen darf, wende ich mich wieder zum Gehen, bevor ich es mir anders überlege und in einem Moment, in dem sie nicht weiß, dass sie beobachtet wird, noch ein Foto mache.

Am nächsten Tag statte ich einem Wildpark bei Osaka einen Besuch ab, mit dem Vorhaben, einen Hirsch vor einem der vielen Tempel hier zu fotografieren. Dass die Tiere aber so begeistert über mich herfallen, hätte ich nicht gedacht. Mich verzweifelt vorwärts kämpfend bemerke ich den älteren Mann nicht, der sich mir nähert, und drehe mich verwundert um, als auf einmal alle Rehe verschwinden, um etwas von dem Futter zu ergattern, welches er neben den Weg streut.
„Alles klar bei Ihnen? Die Tiere sind manchmal etwas zu aufdringlich", entschuldigt der Ältere sich und tritt an den Rehen vorbei auf mich zu.
„Kein Problem, aber danke", lache ich und schauen den Tieren dabei zu, wie sie sich um das Futter drängen.
„Wollen Sie Fotos machen?", fragt er und deutet auf meine Kamera. Nein, ich trage mein Baby nur spazieren.
„Ja", antworte ich und muss über meinen Gedanken grinsen.
„Wenn Sie noch ein paar Meter weiter gehen, führt ein kleiner Trampelpfad links in den Wald. Das könnte Sie interessieren", meint er noch und verabschiedet sich dann.
Einige Schritte weiter finde ich tatsächlich einen kleinen Weg, der direkt in den Wald führt.
Etwas unruhig bin ich, als ich unter den dichten Tannen entlang stapfe, welche jegliches Sonnenlicht aussperren. Nur einige der steinernen Laternen erleuchten den Wald in unregelmäßigen Abständen, ich kann mich glücklich schätzen, dass sie auch am Tag eingeschaltet sind.
Rehe verfolgen mich, sind aber lange nicht so aufdringlich wie eben.
Meine Kamera fest im Griff laufe ich langsam vorwärts, die Kälte hier erreicht mein Gehirn nicht mehr, ich habe nur Augen für meine Umgebung.
Immer mehr Wurzeln bilden kleine Stolperfallen, ziehen sich wie Adern durch den Boden.
Als ich die ersten, grauen, verwitterten Steine bemerke, welche sich zu der Erde und dem weichen Feld aus Tannennadeln mischen, über welche ich laufe, werde ich misstrauisch. Hier wird doch kein Tempel sein!
Mitten im Wald, zerfallen, vom Pflanzen- und Tierreich erobert, lange vergessen. Von Moos überzogen, von Bäumen angenagt, von Sonnenlicht geflutet.
Mit angehaltenem Atem gehe ich ein paar Schritte weiter und sehe genau das Bild vor mir, welches ich eben vor meinem inneren Auge hatte.

Wieder in meinem Hotelzimmer angekommen sortiere ich die Bilder von heute und gestern aus und halte inne, als ich das Foto des Mädchens entdecke, welches ich ohne ihr Wissen gemacht habe. Ihre Auge funkeln voll Ruhe, der Anflug eines Lächelns liegt auf ihren Lippen, sie sieht unglaublich glücklich aus. Grinsend beiße ich mir auf die Unterlippe, unglaublich stolz auf sie, das Bild und mich.
Gedankenverloren öffne ich Twitter und Instagram und weiche verblüfft zurück, als ich sehe, wie viele neue Nachrichten ich habe.
Meine Collage ist eingeschlagen wie eine Bombe. Dutzende Fans haben sie retweetet und geliket, in den Kommentaren tummeln sich Smileys mit Herzaugen.
Perplex mache ich die Seiten zu und wieder auf, doch die Herzen und Kommentare bleiben. Dann werde ich mit meiner Pentatonix-Verfolgung wohl mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen als gedacht, aber das soll mich nicht weiter stören. Vielleicht wird es dann doch was mit meiner Fotografenkarriere.


SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt