50. Kapitel

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Und sein Blick gleitet weiter. Übergangslos. Er hat mich nicht wahrgenommen. Vielleicht sucht er jemanden, vielleicht denkt er grade über etwas nach.
Vielleicht.
Aber es tut weh.
Es tut weh zu wissen, dass ich nur eine von vielen bin, dass ich nichts Besonderes bin, obwohl ich sie gerettet habe.
Es tut weh, dass ich nicht weiß, ob er mich noch kennt, weil er mich nie direkt ansieht, weil ich seinen Blick nicht deuten kann.
„Was ist passiert, wovon ich nichts weiß?", flüstert Su direkt in mein Ohr, doch ich schüttele abwehrend den Kopf.

Ja, es tut weh, es sticht, mitten im Herzen.
Bei allen anderen könnte ich es verstehen, alle anderen hatten nur Augen für denjenigen neben sich, immerhin müssen sie es gewesen sein, die Silhouetten im Hintergrund.
Aber Avi?
„Erde an Amari!", lacht Su und wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum.
„Ich bin wohl schon etwas zu lange dabei. Ich habe von Anfang an gesagt, dass mich das irgendwann verrückt machen wird! Und jetzt ist es geschehen", grinse ich, auch wenn meine Gedanken nicht von Avi ablassen können.
Ich muss auf der Stelle ein VIP-Ticket haben, sonst drehe ich durch.
Noch mehr als ohnehin schon.

„Du hast vielleicht eine blühende Fantasie", seufze ich, als Su und ich nach dem Konzert Seite an Seite aus der Halle laufen.
Natürlich hat sich mich nicht mehr in Ruhe gelassen, nachdem ich so abwesend war.
„Das merkt doch ein Blinder, dass du irgendwas hast!", meint sie und springt auf und ab, sodass ich mich unwillkürlich frage, ob sie betrunken ist.
So was ist doch nicht normal.
„Okay, ich kann es echt verstehen, wenn du es mir nicht sagen willst, aber gib es wenigstens zu!"
Ich lege meinen Kopf in den Nacken, schaue in den dunkelgrauen Himmel und versuche, meinen Kopf frei zu bekommen.
„Es war an dem Abend. Bei dem Anschlag. Deswegen will ich nicht drüber reden. Tut mir leid.", murmele ich.
„Du solltest echt eine Gruppentherapie mit Pentatonix machen. Die haben bestimmt auch noch ein Trauma davon. Hast du das eigentlich mitbekommen? Da muss irgendwas Krasses passiert sein, das war fast zwei Wochen lang in den Nachrichten! Sonst verschwindet so was ja immer nach ein paar Tagen, aber das bei Pentatonix? Irgendwas war doch garantiert faul da", rattert Su herunter. Wieder in diesem wahnsinnigen Tempo.
„Ich... ich lag danach im Krankenhaus. Für ein paar Wochen oder so", meine ich und schlucke.
Jetzt habe ich angefangen, jetzt muss ich es auch durchziehen.
„Können wir ein Stück gehen? Dann erzähle ich es dir. Es sollten nur nicht so viele Leute mitbekommen, sonst ist das direkt wieder Topthema."
Su schaut mich nur erstaunt an, nickt aber.
Selbst sie versteht grade wohl, dass es kein Zeitpunkt für Witze ist.

„Du hast bestimmt von der Person gehört, die auf die Bühne gerannt ist", fange ich vorsichtig an.
Ich weiß auch nur, was ich gelesen habe.
Und geträumt.
Und gesehen.
Und gefühlt.
„Klar", sagt Su nur.
„Und du hast bestimmt auch das Foto von Avi gesehen, der das Mädchen aus der Halle trägt?"
Nur ein leichtes Nicken. Aber das reicht schon.
Wortlos ziehe ich die helle Strähne unter meinem Deckhaar hervor.

Später an diesem Abend bekomme ich eine Benachrichtigung von YouTube.
Später an diesem Abend lädt Kevin ein Video hoch, in dem er darüber spricht, dass grade alles ein wenig chaotisch ist.
Doch nur drei Sätze brennen sich wirklich in mein Gehirn ein.
„Ich mache mir Sorgen um Avi. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Ihn nimmt das am meisten mit."
Es frisst sich in mein Herz, noch bevor ich es überhaupt realisiert habe.
Und eines kann ich mir nur zu gut denken: Nimmt Avi keine Auszeit, zerstört es ihn irgendwann.
Nimmt er eine Auszeit, zerstört es Pentatonix.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt