28. Kapitel

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Den gestrigen Tag habe ich komplett in meinem Hotelzimmer verbracht, mich vor der Welt versteckt, das rege Treiben auf den Straßen von Osaka beobachtet, alles aus einer sicheren Entfernung. Etwas, was heute nicht mehr funktionieren wird.
Heute muss ich mich wohl oder übel ins Getümmel stürzen, auch wenn mir bei dem Gedanken, wieder zu einem Konzert zu gehen, schlecht wird.
Die Anschläge lassen mich seit dem letzten Mal nicht los, selbst in meinen Träumen tauchen immer wieder Menschen auf, die ich hätte retten können. Wenn ich nicht versagt hätte.
Kopfschüttelnd wende ich mich meinem Koffer und der Tasche zu, die fertig gepackt neben mir stehen und nur darauf warten, dass es weitergeht.
Nicht, dass ich noch fast drei Tage hierbleiben würde, nein. Aber ich hatte nichts anderes, nichts besseres zu tun.
Und jetzt stehe ich wieder hier, werfe jede gefühlte Millisekunde einen Blick auf die Uhr und zupfe nervös an meinem T-Shirt herum.
Draußen ist es warm.
In Menschenmengen sowieso immer.
Bei Konzerten ebenfalls.
Nachdem eine Minute vergangen ist, zerre ich mein Handy aus der eigentlich viel zu kleinen Hosentasche und schaue noch einmal nach, wie ich später zum Summer Sonic Festival komme, bei dem Pentatonix auftreten wird.
Ich könnte jetzt schon hingehen, wahrscheinlich wäre das schlauer, aber mein Körper weigert sich, innerlich sträube ich mich schon, heute Abend das Hotel zu verlassen, aber mein Kopf freut sich darauf.
Und es gehört zum Plan.
Den ich einhalten werde.
Komme, was wolle.
Seufzend lasse ich mich auf die Matratze fallen, wobei mir das Loch in meinem Socken auffällt.
Mit dem großen Zeh wackelnd suche ich ein neues Paar und ziehe es an, dann schmeiße ich das alte weg. Löchrige Socken kann ich nicht gebrauchen.

Bis ich mir dann doch endgültig die kleine Tasche schnappe, die ich zu den Konzerten mitnehmen will, und das Zimmer verlasse, vergehen sage und schreibe zwei Stunden.
Trotzdem bin ich noch viel zu früh.
Nervös auf Unterlippe kauend gehe ich die Treppen nach unten, 18 Stockwerke, den Blick auf den smaragdgrünen Teppich gesenkt.
Wenn ich jetzt etwas vergessen habe, egal was, ist es mir herzlich egal, denn ich werde garantiert nicht noch einmal in mein Zimmer laufen.
Die Aufzüge habe ich seit meiner Ankunft ignoriert, aus einem guten Grund. Da ist es mir egal, wie viele Leute mich verstört anschauen, wenn ich schnaufend wie ein Walross durchs Treppenhaus stapfe, ich werde mich garantiert nicht in die Fängen eines winzigen Raumes begeben, der an dürren Stahlseilen tausende Kilometer über einem Abgrund schwebt. Ich habe keine Höhenangst, so ist das nicht, eher im Gegenteil. Aber kleine, geschlossene, furchtbar enge Räume stehen nicht grade ganz oben bei den Dingen, die ich liebe.

Obwohl ich die Strecke im Kopf und an meinem Handy bestimmt hundert Mal durchgegangen bin, schaue ich noch einmal den Zettel an, den ich mir geschrieben habe und welcher jetzt schon abgegriffen ist. Erst dann laufe ich zögernd los, es fühlt sich irgendwie komisch an, hier zu sein, ich fühle mich fremd, und doch mache ich alles, um dieses Gefühl zu ignorieren, um es zu verdrängen, denn ich bin mir sicher: So wird es mir die nächste Zeit durchgehend gehen. Dass mich niemand wirklich beachtet lässt mich innerlich aufatmen und so laufe ich den halben Kilometer zur U-Bahn-Station, die mich komplett überfordert.

Irgendwann habe ich dank einer englischen Erklärung doch verstanden, wie dieses Labyrinth funktioniert, und quetsche mich in die überfüllte Bahn, froh, dass ich an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen darf. Ich konnte U-Bahnen schon in Deutschland nicht ausstehen, mit nur einem Bruchteil der Menschenmasse gefüllt wie hier.

Der Bus, mit dem ich anschließend fahren muss, ist ebenfalls gut gefüllt. Wahrscheinlich will halb - oder ganz - Osaka zum Summer Sonic Festival, immerhin sehe ich überall Werbung und Mädchen oder junge Frauen in den verrücktesten Kostümen. Und ich wüsste nicht, wo sie sonst hin wollen.
Mit jeder Station werde ich nervöser, aufgeregter, angespannter. Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich mache, weiß nicht, was das für ein idiotischer Plan ist, den ich durchziehen will.
Aber wenn ich ihn schon ausführe, dann richtig, denke ich mir, als ich hinter einer Gruppe aufgeregt redender Teenager auf das Festival zusteuere, welches man schon von Weitem nicht überhören kann.


Pentatonix, ich komme.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt