35. Kapitel

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Verwirrt blinzelnd schaue ich die Fans rechts und links von mir an, die mich neidisch und doch begeistert strahlend anblicken.
Sie meint mich.
Kirstie hat soeben wirklich beschlossen, mich auf die Bühne zu holen.
Ob sie mich erkannt hat?
Mit zitternden Fingern halte ich mich am metallenen Zaun fest, mein Herz rast wie verrückt, ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Das zerstört den Plan, welchen Lucia und ich so sorgfältig ausgearbeitet haben, vollkommen, und dennoch wäre ich dämlich, wenn ich die Chance nicht ergreifen würde, immerhin warte ich auf diesen Moment schon seit quasi meiner Geburt.
Die Entscheidung wird mir abgenommen, als jemand auf mich zukommt, um mich über die Abgrenzung zu heben. Schnell verstecke ich meine helle Strähne irgendwie unter meinen Haaren und bete einfach nur, dass mich niemand erkennt, auf der Bühne, vor so vielen Leuten. Hoffentlich sehen sie täglich so viele Menschen, dass sie mein Gesicht nicht mehr einordnen können.

„Hey!", meint Kirstie und schließt mich in eine Umarmung, nachdem ich wie eine Feder über den Zaun gehoben wurde. Dabei stelle ich fest, dass sie mit ihren hohen Absätzen ungefähr so groß ist wie ich. Innerlich triumphierend, dass es doch auch Leute gibt, die kleiner sind als ich, folge ich der Sängerin auf die Bühne und überlege dabei, ob sie mich an meiner Stimme erkennen könnten.
Bevor ich mich mit meinen Gedanken verrückt machen kann, eile ich zu Kevin und umarme ihn ebenfalls, während Kirstie den anderen Fan drückt.
Als ich mich von dem Beatboxer löse, sehe ich Avi, der grade mit einem kleinen Kind an der Hand auf die Bühne kommt. Nachdem er den Jungen auf einem der Sitzsäcke platziert und ich ihn lange genug angestarrt habe, gehe ich auch auf ihn zu, wobei die Stimmen in meinem Kopf immer lauter werden.
Er ist derjenige, der mich aus der Halle getragen hat.
Derjenige, der mit mir auf dem Foto in meiner Zeitschrift zu sehen ist.
Die Person, deren grüne Augen mich im Schlaf verfolgt haben.
„Hey, alles klar bei dir?", lächelt er leicht, als ich vor ihm stehen bleibe. Unfähig zu reden nicke ich und lasse mich in seine Arme schließen.
Der ganze Plan ist eine dumme Idee. Ich bekomme neben Pentatonix kein Wort heraus, nichts, was Lucia und ich uns ausgedacht haben, wird funktionieren.
Kaum habe ich mich aus Avis Umarmung gelöst, kommt eine vollkommen aufgelöste, junge Frau an und überrennt den Basssänger fast schon. Als ich Scott sehe, der die Treppe empor steigt, geht es mir allerdings auch nicht anders.
Ich spüre fast schon, wie sich mein Blick schlagartig erhellt und als ich auf den Blonden zueile, sind jegliche Befürchtungen um den Plan vergessen. Jetzt zählt nur, dass ich endlich meinen Scott umarmen kann, ihn aus nächster Nähe sehen.
Unser letztes Aufeinandertreffen bei dem Anschlag zählt nicht, zumal ich mich nicht daran erinnern kann.
„Hi!", lacht der Sänger nur, als ich mich ein wenig besitzergreifend an ihn werfe.
„Oh Gott, du bist auch so klein", grinst er danach. Sofort verfliegt der Nebel, den seine Anwesenheit soeben in meinem Gehirn verursacht hat, und ich werfe ihm einen mörderischen Blick zu.
„Ich bin größer als Kirstie", halte ich gegen seine Aussage, woraufhin er wieder nur lacht, was diesmal jedoch so ansteckend ist, dass auch ich grinsen muss.
„Nicht jeder kann so ein Riese sein wie du, Hoying", meine ich schulterzuckend und mit einem furchtbar bedauernden Tonfall, wobei ich den Gesichtsausdruck dazu nur wenige Millisekunden halten kann, denn Scott verzieht gespielt entschuldigend sein Gesicht.
„Hab ich was verpasst?", kommt es in dem Moment von links. Von ziemlich nahe links. Von so ungefähr direkt neben meinem Ohr links.
Langsam drehe ich meinen Kopf zu Mitch und lehne mich dabei ein Stück zurück.
„Hi", sage ich gedehnt und nutze den Moment aus, in dem Mitch irritiert zu Scott schaut, welcher immer noch leise kichert, um den Tenor zu umarmen.
„Okay! Seid ihr alle fertig? Scott, Mitch?", kommt es von Kevin, der uns belustigt ansieht.
Grinsend gehe ich zu Kirstie und atme tief durch, bevor das Lied beginnt.
Bis jetzt ist doch alles gut gegangen.

SchnappschussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt