Aufgeregt aber auch ein bisschen traurig verstaue ich die letzte Tasche mein kleines Auto. Die letzten fünf Jahre war die WG, in der ich mit Mia meiner besten Freundin und ihrer Freundin Dali gelebt habe, mein Zuhause. Ich weiß gerade nicht, ob die Vorfreude auf meine Eltern und meine Schwester größer sind, als die Traurigkeit, die mich schon seit einer Woche immer wieder überkommt.
Mia drückt mich noch ein letztes Mal so fest, dass ich Angst habe sie bricht mir die Rippen. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen - ich werde das Mädchen mit den roten Haaren und großen Ohrlöchern vermissen.
„Du wirst schreiben, oft - und uns besuchen" Ihr Ton lässt keine Widersprüche zu und ich habe auch gar nicht vor ihr zu widersprechen. Es wird mir fehlen nach Hause zu kommen und sie auf dem Bett liegen zu sehen - vorzugsweise mit Dali zusammen, wie sie Musik hören, die einen Tick zu aggressiv und definitiv viel zu laut ist.
Noch während ihre Arme um meinen Hals liegen versichere ich ihr, mich regelmäßig zu melden und ihr alles zu erzählen was in meinem Leben passiert.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals das Zimmer angeschaut habe und wir uns nicht ausstehen konnten. Letztendlich habe ich das Zimmer auch nur bekommen, weil Dali ein gutes Wort für mich eingelegt hatte.
Jeden Tag haben wir uns darüber gestritten, dass ihre Musik viel zu laut ist, der Pudding im untersten Fach meiner war und dass sie das Leben viel zu einfach nimmt. Das meiste, eigentlich nichts davon, hat sich geändert. Doch irgendwie haben wir mit der Zeit zueinander gefunden und irgendwann ist daraus eine Freundschaft geworden, der niemand etwas anhaben kann. Ich war für sie da, bei jedem Herzschmerz, jeder Diskussion mit ihren Eltern über ihre Sexualität und jedem noch so bescheuertem Kampf mit der Waschmaschine, die sie bis heute noch nicht bedienen kann.
„Wir werden dich vermissen Iv" Dali lächelt mich leicht an und legt ihren Arm um Mia, damit diese endlich von mir ablässt. Wir alle haben unser Studium gleichzeitig abgeschlossen. Dass das rothaarige Mädchen schon zwei Jahre vorher hätte fertig sein können, wird dabei nicht erwähnt.
Mia fällt mir noch ein letztes Mal schluchzend um den Hals, bevor ihre Freundin sie von mir zerrt und ich lachend in mein Auto steige. Schrotti macht wie üblich ein paar Geräusche, die niemand der fünf Stunden fahren muss, von seinem Auto hören will, doch ich mache mir nur wenig Gedanken. Der kleine Polo hat mich fünf Jahre lang überall dorthin gebracht, wo es nötig war.
Mit jedem Kilometer, den ich fahre, freue ich mich ein bisschen mehr auf meine Familie. Allerdings ist es ein komisches Gefühl, das Auto voll zu haben mit allem Hab und Gut, das ich besitze und dem Gewissen, dass ab jetzt alles anders laufen wird. Auf meine Bewerbungen war die Resonanz dürftig. Von den vielen Firmen haben die meisten nicht geantwortet, dass meiste waren dann auch noch Absagen, wenn sie es mal getan haben. Meine Noten sind nicht unterirdisch schlecht aber auch nicht herausragend gut.
Mir war das Lernen genauso wichtig wie zu leben. Ich wollte nicht immer nur in meinem Zimmer oder der Bibliothek eingesperrt sein und dabei nichts erleben auf das ich später zurückblicken könnte. Wer hätte gedacht das ausgerechnet die Person, die ich am Anfang am wenigsten leiden konnte, mir die lustigsten und schrägsten Erinnerungen beschert.
Aus meinem Radio spielt ruhige Musik, ein letztes Mal schaue ich noch auf die bekannten Straßen, bevor ich in Richtung Autobahn fahre.
Aufgrund der Entfernung konnte ich meine Eltern nur zweimal all die Jahre besuchen und die Zeit war dann so knapp, dass wir fast nichts voneinander hatten. Etwas in mir ist unglaublich neugierig darauf, was sich wohl alles verändert hat und wie die Menschen von damals, mit denen ich mal befreundet war, jetzt leben. Zu vielen ist der Kontakt komplett abgebrochen. Von einigen anderen hört man noch ab und zu an Geburtstagen und gerade mal zwei sind noch so präsent in meinem Leben geblieben, dass immer noch regelmäßiger Kontakt besteht.
Während mein Blick weiterhin auf der Straße ruht, krame ich in meiner Handtasche, die auf der Beifahrerseite liegt, nach meinem Handy. Nachdem ich es endlich in dem Dschungel des unendlichen Kleinkrams gefunden habe, öffne ich die Navigationsapp und tippe die Route ein. Zwar weiß ich wie ich nachhause komme, aber ich habe es dennoch gern zu wissen, wie lange ich noch unterwegs sein werde.
Mamas Nummer taucht auf dem Display auf und anbei die Frage, ob ich auch schon losgefahren bin. Ich kann es mir nicht verkneifen die Augen zu verdrehen, muss gleichzeitig aber auch grinsen. Das ist Mama, wie sie immer ist. Anstatt ihr während dem Fahren zu antworten, warte ich damit bis zu meiner ersten und wahrscheinlich einzigen Pause. Glücklicherweise ist die Autobahn so gut wie leer, lediglich ein paar langsame LKWs kriechen vor mir her.
Gelangweilt sehe ich mich um. Letztendlich bleibt mein Blick auf der Kette an meinem Rückspiegel hängen. Sie ist aus roten und blauen Kugeln selbstgemacht. Bei jeder kleinen Bewegung die Schrotti macht, wackelt sie hin und her. Die Kette war Mias Versöhnungsgeschenk dafür, dass sie meine liebste Jeans mit Wein und einer anderen nicht identifizierbaren Substanz versaut hat. Wie das zustande gekommen ist habe ich gar nicht erst hinterfragt. Manche Mysterien wollen und sollen einfach nicht gelöst werden. Zwar habe ich ihr das bis heute noch nicht verziehen, aber wie sie damals vor mir stand und mit geknickter Miene versucht hat ihr Missgeschick wieder gut zu machen, konnte ich nicht lange sauer sein. Glücklicherweise haben wir es geschafft alle Flecken zu entfernen, jedoch hat sie sich nach diesem Tag nie wieder eine meiner Hosen leihen dürfen.
Immer wieder taucht Mamas Telefonnummer auf dem Display meines Handys auf und nach gefühlt tausend Anrufen nehme ich augenverdrehend an und schalte auf Lautsprecher. Was telefonieren beim Autofahren angeht, kann ich zwar keine reine Weste vortragen, aber unwohl fühle ich mich dabei immer.
Die piepsige Stimme meiner Mutter dringt durch das Telefon.
„Ivory bist du nun auf dem Weg?" Im Hintergrund kann ich hören, wie Teller klirren und immer wieder jemand etwas versucht zu sagen, aber anscheinend unterbrochen wird.
„Hallo Mama" Sarkastisch mache ich sie darauf aufmerksam, dass es höflich gewesen wäre vorher zu grüßen. Eigentlich ist meine Mutter immer diejenige gewesen, die andere auf ihr unhöfliches Verhalten aufmerksam gemacht hat.
„Ja bin ich. Ich mache gleich eine kurze Pause und fahre dann die letzten hundert Kilometer", füge ich hinten dran, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. Ansonsten würde sie mir nur einen Vortrag darüber halten, dass man so nicht mit seinen Eltern zu reden hat.
Noch während wir telefonieren, halte ich Ausschau nach einem Rastplatz und werde auch schnell fündig.
„Ich werde dir eine Adresse schicken, komm bitte zu aller erst dort hin", bittet sie beiläufig. Stirnrunzelnd fahre ich die Abfahrt runter auf den Rastplatz.
Obwohl ich es untypisch finde, sage ich nichts, sondern nicke nur, bis mir bewusst wird, dass Mama das gar nicht sehen kann. Verwirrt und müde brumme ich ein „Okay" in den Lautsprecher und schalte den Motor meines Autos aus.
„Wir freuen uns auf dich Schatz", im Gegensatz zu der Angespanntheit vorher, klingt die Stimme meiner Mutter jetzt wieder weich.
„Ich mich auch", sage ich lächelnd und drücke auf das rote Zeichen. Nachdem das Gespräch beendet ist, lasse ich mich etwas entspannter in meinem Sitz sinken und atme aus.
Bald bin ich zu Hause.
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Blue Jeans
Teen FictionIvory und Noah waren beste Freunde. Nichts konnte die beiden trennen, zumindest dachte Ivory das, bis Noah eines Tages aus heiterem Himmel den Kontakt zu ihr abbricht. Jahrelang herrscht Funkstille zwischen den ehemals besten Freunden. Erst als Ivor...