Die Navigationsapp meines Handys schickt mich in eine Gegend unserer kleinen Stadt, in der viele Mehrfamilienhäuser aneinandergereiht stehen. Nicht der ärmste Teil, der reichste aber auch nicht. Verwundert darüber ziehe ich die Augenbrauen zusammen und vergleiche noch ein letztes Mal die Adresse, mit der meiner Mutter. Auch nach mehrmaligem hinsehen kann ich keinerlei Fehler feststellen.
„Sie haben ihr Fahrtziel erreicht." Als die Frauenstimme auf meinem Smartphone ertönt, bleibe ich vor einem der Häuser stehen. Es regnet in Strömen, als ich den Motor ausschalte und das Handy wieder in meiner Handtasche verstaue. Bevor ich aus dem Auto steige, lege ich meinen Kopf noch einmal gegen die Lehne und atme tief aus. Ich habe keinen blassen Schimmer warum ich hier bin oder warum ich überhaupt hierherkommen soll.
Mit meiner Handtasche auf der Schulter renne ich zur Haustür. An der rechten Seite der Hauswand ist die Zahl 5 dick aufgemalt.
„Ich bin jetzt da." Am anderen Ende der Leitung höre ich einen Moment erst gar nichts. Fast glaube ich, dass ich gerade mit der Mailbox spreche, bis plötzlich die Tür vibriert.
„Erster Stock." ist das Einzige, was meine Mutter am anderen Ende der Leitung sagt. Unsicher beiße ich mir auf die Lippe, lege auf und laufe die Stufen nach oben. Schon nach den ersten sieben Stufen muss ich schnaufen wie ein Walross. Nicht, dass mir meine fehlende Ausdauer erst jetzt bewusst wird, aber Sport wäre wohl wirklich angebracht.
Im ersten Stock angekommen gibt es nur zwei Türen. Unentschlossen stehe ich in der Mitte, nicht sicher bei welcher ich jetzt klingeln soll. Die Entscheidung wird mir allerdings schnell abgenommen, als sich die eine Tür öffnet.
„Ivory!" Die quirlige Stimme meiner Schwester kommt mir entgegen. Während sie mir um den Hals fällt, kann ich nur mit offenem Mund dastehen und staunen. Josy hat sich in den letzten Jahren zu einer jungen Frau gemausert. Ihre braunen Haare sind unfassbar lang geworden und sie ist um gefühlt zehn Köpfe gewachsen.
Letztendlich lege ich meine Arme um sie und drücke sie fest. Sie hat mir in den letzten Jahren so unglaublich gefehlt. Erst jetzt, als sie vor mir steht, wird mir das so richtig bewusst.
„Wo ist Mama?", frage ich verwirrt. Josy's Gesichtsausdruck wirkt plötzlich fahl, sie zeigt mit dem Finger in die Wohnung.
Schon bevor ich überhaupt drinnen bin, kommt mir ein penetranter Geruch von Rauch entgegen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass meine Eltern wieder rauchen. Papa war noch nie ein Raucher und Mama hat schon vor Jahren aufgehört. Die Wohnung sieht ganz angenehm aus. Etwas unordentlich aber sauber. Irgendetwas sagt mir, dass das Josys Verdienst ist.
„Mom?", rufe ich durch die Wohnung. Ich schaue in einen der Räume und werde von meiner Mutter überrascht. Sie sitzt in unordentlicher Kleidung auf dem Sofa, als sie mich sieht, drückt sie sofort die Zigarette im Aschenbecher aus. Die Rauchfaden schweben noch immer in der Luft nach. Ich kann meinen eigenen Augen kaum trauen. Meine Mutter lief noch nie in unordentlicher Kleidung rum. In ihrem Job war sie immer dazu verpflichtet ordentlich gekleidet zu sein. Als Maklerin erwartet man einen gewissen Standard.
„Ivory Schatz." Sie nimmt mich in den Arm. Ihre Worte kommen bei mir an, prallen aber wieder an mir ab. Sie haben keinerlei Ehrlichkeit oder gar Freude in sich.
Mir muss die Verwirrung ins Gesicht geschrieben sein, denn Mama schiebt mich direkt in die Richtung des Sofas und sagt ich soll mich setzen. Mein Blick wandert zu Josy, die mit verschränkten Armen in der Tür steht und zu unserer Mutter sieht. In ihren Augen meine ich Verachtung, wenn nicht sogar Hass zu sehen.
„Wo ist Papa?" Nachdenklich setze ich mich auf das Sofa. Es sieht genauso aus wie jenes aus unserem Wohnzimmer von damals. Nur sieht man ihm die Jahre jetzt deutlich an. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen, nervös reibe ich sie an meiner Jeans ab.
Die Antwort auf meine Frage lässt nicht lange auf sich warten, denn es dauert keine dreißig Sekunden, da steht er auch schon in der Tür. Absolut überrumpelt und geschockt reiße ich die Augen auf und erhebe mich augenblicklich wieder. Ich laufe um den kleinen Tisch herum, auf ihn zu. Papa wirkt fahl im Gesicht. Sein ganzer Körper wirkt krank und dünn.
Ich kann nicht verhindern, dass mir die Tränen ins Gesicht schießen und mein Mund offen steht.
„Ivy." Papa legt seine Arme um mich. Ich merke, dass er mit seinem ganzen Gewicht auf mir liegt, als müsste er sich an mir festhalten. Seine Stimme ist nicht mehr so stark und selbstbewusst wie ich sie in Erinnerung habe. Sie wirkt kränklich und schwach.
Nach ein paar Sekunden, in denen es sich so anfühlt, als würde die ganze Welt auf meinen Schultern liegen, lässt mein Vater von mir ab und sieht mich an.
Vor drei Jahren, als ich meine Familie das letzte Mal gesehen habe, war alles noch so viel anders. Josy war noch so jung und naiv, jetzt scheint es, als wäre sie die treibende Kraft hier. Damals gab es nicht einen Tag, an dem Mama so unordentlich herumgelaufen ist und Papa - Papa war damals noch gesund.
Josy streift meinen Arm und holt mich somit aus meinen Gedanken. Sie nimmt Papa am Arm und bringt ihn zu einem der Holzstühle, an den Tisch, der wohl als Esstisch dienen soll.
Alle Blicke wandern zu mir, aber niemand sagt etwas. Ich fühle mich unwohl und fremd in dieser Wohnung in der ich noch nie gewesenen bin. Mein Magen dreht sich im Kreis, die Übelkeit überkommt mich. Langsam verschränke ich meine Arme und warte darauf, dass endlich jemand anfängt zu sprechen und mir erklärt, was hier passiert ist.
Angestrengt atme ich auf und reibe mir die Schläfen.
„Wollt ihr nicht über etwas reden?" Mit meiner Hand mache ich eine Geste in den Raum, um das Offensichtliche zu betonen. Während Josy Papa ein Glas und ein paar Tabletten aus einer Box reicht, sitzt meine Mutter nur auf dem Sofa. Die Beine überschlagen, reibt sie sich sichtlich nervös die Hände und atmet schwer aus.
„Es ist viel passiert, seitdem du uns das letzte Mal besucht hast." Mama sieht zu mir, ihre Augen wirken traurig und auch ein bisschen verzweifelt. Wahrscheinlich würde ich jetzt Mitleid bekommen, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt die ganzen Eindrücke zu verdauen.
„Offensichtlich", gebe ich sarkastisch zurück und schnaube verächtlich.
Der Geruch von Zigaretten hängt sich in meine Nase. Es stinkt widerlich, als hätte seit Jahren niemand mehr gelüftet.
„Wir konnten die Raten für das Haus so lange nicht mehr bezahlen, bis es uns letztendlich weggenommen wurde. Seit dem wohnen wir hier."
In der Stimme meiner Mutter kann ich hören, dass es ihr peinlich ist mir das zu erzählen. Aber sie kann nicht wirklich erwartet haben, dass es so weit nicht kommen würde.
„Wie konnte das passieren?" Ich weiß selbst nur zu gut, dass mein Ton schnippisch ist, aber ich kann nichts dagegen tun. Die momentanen Umstände scheinen schlimmer, als alles, was ich mir jemals hätte ausmalen können.
Mama setzt zu einem Satz an, lässt aber die Schultern hängen und sieht auf den Boden. Letztendlich ist es Papa, der das Wort ergreift.
„Du solltest so nicht mit deiner Mutter reden."
Seine dunklen Augen funkeln mich erbost an, auch wenn sein Ton ruhiger ist, als mein eigener.
„Schaut doch, wie ihr lebt." Mein Blick wandert durch die schmuddelige Wohnung. Ein paar Möbel erkenne ich wieder, das Meiste allerdings ist mir fremd und steht kurz vor dem Verfall.
„Deine Mutter und ich sind dir keine Rechenschaft schuldig. Wir haben hart gearbeitet, um dir deinen Weg zu ermöglichen, sei nicht so undankbar!" Papa möchte aufstehen, wirft dabei den Stuhl um, auf dem er bis gerade noch saß und drängt sich langsamen Schrittes an mir vorbei.
Sprachlos bleibe ich in der Tür stehen, während Mama ihm hinterherläuft. Ihr Blick spricht Bände.
„Ich zeig dir dein Zimmer." Josys Stimme ist ruhig, aber belegt.
So viel mehr als ich verarbeiten kann, scheint sich in meiner Abwesenheit verändert zu haben.
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Blue Jeans
Novela JuvenilIvory und Noah waren beste Freunde. Nichts konnte die beiden trennen, zumindest dachte Ivory das, bis Noah eines Tages aus heiterem Himmel den Kontakt zu ihr abbricht. Jahrelang herrscht Funkstille zwischen den ehemals besten Freunden. Erst als Ivor...