Kapitel Einundzwanzig ~ Ein Anruf mit Folgen

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Am nächsten Tag stehe ich eine halbe Stunde früher als nötig auf dem Firmengelände. Die Spuren der Feier sind mittlerweile verschwunden, alles ist so trist und leblos wie davor. Mittlerweile fühle ich mich nicht mehr wie ein Fremdkörper in diesem Gebäude. Routiniert melde ich mich bei Nadine, weil ich noch eine Praktikantin bin bleibt mir keine andere Wahl, und steige in den Aufzug um rauf in die vierte Etage zu fahren. Männer in Anzügen und Frauen in schwarzen Röcken oder Kostümen stehen neben, vor und hinter mir, wollen ihren Arbeitstag beginnen.

Das vertraute Ping des Aufzugs ertönt zum vierten Mal, seit dem ich eingestiegen bin, mein Zeichen. Ich quetsche mich an den vielen Menschen vorbei, die dank ihrer natürlichen Größe oder ihren High Heels gut ein Kopf größer sind als ich. Ich würde nicht behaupten klein zu sein - guter Durchschnitt.

„Guten Morgen, Ivory", Mrs. Stetson die Sekretärin von Mr. Blend, einer Noahs Kollegen, grüßt mich mit einem Lächeln und ihrem Coffee to Go Becher in der Hand. Lächelnd nicke ich ihr zu und grüße sie zurück.

Noahs Büro ist gleichzeitig auch meines. Dazwischen liegt lediglich eine Tür. Weil bei ihm das Licht eingeschaltet ist, weiß ich das er bereits da ist.

Ein bisschen Schadenfreude keimt in mir auf, bei dem Gedanken daran, wie viele Papiere er zu unterschreiben hat, weil er letzte Woche häufig gefehlt hat. Ich lege meine Tasche und meine Jacke ab, stelle den Becher auf meinen kleinen Schreibtisch und schnappe mir den ersten Stapel Unterlagen. Ich mache vor seiner Tür halt, die Hand zur Faust geballt, um zu klopfen, als ich bemerke, dass er zu telefonieren scheint.

„Ich bezahle dich, damit du deine Arbeit machst, Henning. Für nichts anderes." Er klingt frustriert und wütend. „Sorge dafür, dass Sie unterschreibt, andernfalls suche ich mir jemanden der es zu Ende bringen kann." Damit scheint das Telefonat beendet. Ich kann hören, wie der Hörer auf die Stadtion geknallt wird. Erschrocken und verwirrt bleibe ich, die Faust noch oben, stehen. Wen bezahlt er wofür und was soll zu Ende gebracht werden?

Noch bevor ich mich fangen kann, geht die Tür auf. Schnell nehme ich meine Hand runter, kann nicht verheimlichen, dass ich mich ertappt fühle. Noah sieht mich mit aufeinander gepressten Lippen an. Seine grünen Augen mustern mich einen Moment.

„Was gibts?", fragt er bissig. Wenn er in diesem Ton mit mir spricht, kann ich nicht verleugnen, dass er mir Respekt einflößt. Jetzt gerade ist er mein Chef und kein Kumpel, das macht er deutlich.

„Die hier..", noch verdattert deute ich auf den Stapel, der zwischen meinem Arm geklemmt ist. „Die müssen unterschrieben und gestempelt werden." Futsch ist meine Schadenfreude.

Noah brummt auf, als wüsste, er nicht was er damit zu tun hat. „Und?", fragt er. Wie selbstverständlich deute ich auf den Stapel. „Du musst sie unterschreiben." ein Stirnrunzeln meinerseits. „Du kannst sie in meinem Auftrag unterschreiben und den Firmenstempel hast du nicht ohne Grund dort liegen." Er deutet mit einem Nicken auf meinen Schreibtisch, auf welchem ein kleiner, silberner Stempel thront.

Noch bevor ich etwas erwidern kann, geht Noah an mir vorbei, schließt die Tür und lässt mich zwischen seinem leeren Büro und meinem alleine.

Über die Hälfte meines Tages verbringe ich damit Unterlagen, Anträge und andere Schreiben mit meiner Unterschrift zu unterzeichnen und den Stempel daraufzusetzen. Weil das ursprünglich seine Aufgabe war, hat mir das einen halben Arbeitstag geraubt, den ich aufholen muss und meine Mittagspause. Sehnsüchtig starre ich auf die kleine Uhr am unteren Rand meines Computers. Zwei Überstunden mehr auf meinem Konto. Verzweifelt versuche ich darin gutes zu sehen, während ich weiter Daten in die Exceltabelle einfüge. Das Einzige was mich noch motiviert, ist die Tatsache, dass es die letzten zwei Seiten für heute sind und ich es dann endlich geschafft habe. Zwei Seiten, die sich ziehen, als wären, sie ekelhafter Kaugummi, der an meiner Schuhsohle klebt und nicht abgehen will.

Zum tausendsten Mal an diesem Tag verfluche ich mich, nicht ausreichend Wasser eingepackt zu haben. Mein Kopf wummert ununterbrochen, erinnert mich daran, morgen definitiv eine große Flasche einzupacken und früher zu erscheinen.

Noah hat den Rest des Tages ein Mal mit mir gesprochen, um mich daran zu erinnern, dass ich ihn auf der Arbeit nicht mit ‚Du' anzusprechen habe. Ich habe seinen Anraunzer mit einem nicken hingenommen und beschlossen, ihn heute nicht ernst zu nehmen. Er scheint nicht in Bestform zu sein und egal was es ist, es beschäftigt ihn und braucht seine Zeit.

Das ein oder andere mal kam mir der Gedanke, dass es an mir und dem Wochenende liegt. Vielleicht habe ich dort eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten sollen. Vielleicht sollten wir es bei Chef und Angestellte belassen. Ich weiß es nicht.

Dann kommt mir das Telefonat in den Kopf und ich grüble die ganze Zeit darüber nach, was es zu bedeuten hatte.

Um fünf vor halb sieben fahre ich den Computer runter, reibe mir über die Schläfen und freue mich auf eine lange, warme Dusche und ein Bett, in dem ich heute Abend den Rest meiner Zeit verbringen werde.

Als ich Noah Bescheid gebe, das ich jetzt gehe und ihm einen schönen Feierabend wünsche, bedenkt er mich mit einem simplen „ebenfalls".

Erschöpft steige ich in mein Auto, schalte ruhige Akustik Musik ein und fädle mich durch den Stadtverkehr, ehe ich auf den Highway auffahre. Es ist Montag, die Rushhour ist vorbei, weshalb ich schnell vorankomme. Während die Großstadt im Hintergrund kleiner wird, denke ich über den Tag nach, komme auf keine plausible Erklärung für sein Verhalten.

Mein Magen erinnert mich mit lautem Knurren an die Tatsache, dass ich heute nur einen Apfel gegessen habe. Innerlich beruhige ich ihn und sage ihm, dass es bald Essen gibt. Viel wird es nicht sein, denn es ist zu spät und ich bin zu müde, doch es ist besser als nichts.

Müde und fertig fahre ich mein Auto auf einen der Anwohnerparkplätze. Da man diese nicht reservieren kann, ist es ein reines Glücksspiel einen zu bekommen. Fährst du weg, kann es sein, dass du zwei Tagelang auf der Straße parken musst.

Während ich einparke, fällt mir ein Auto auf, dass ich zu gut kenne. Um sicherzugehen, reibe ich mir über die müden Augen, was nichts an meiner Sicht verändert.

Und bevor ich das Haus überhaupt betrete, wird meine Vermutung bestätigt, und zwar in Form eines Mannes mit brauen Haaren, klobigen Boots und Lederjacke. Bailey sieht nicht, wie jemand aus der verheiratet ist, sondern wie jemand, der sich in seinen jungen Teenagerjahren verloren hat.

Als er mich sieht, steckt er sein Handy in die Hosentasche und kommt auf mich zugelaufen.

„Hey", seine Stimme klingt gleichgültig, sein Gesicht ist ausdruckslos. Keine Ahnung was er hier will, denn es gibt seit unserem letzten Gespräch nichts mehr zu sagen. Ich nicke ihm zu, habe nicht die Absicht noch ein Wort mit Bailey zu wechseln. Im Schein der Laterne, die als einzige noch Licht spendet, kann ich sehen, wie er sich auf die Lippe beißt.

„Hör mal", sagt er, macht eine kurze Pause um Luft zu holen, doch ich komme ihm zuvor und hebe meine Hand als Zeichen, dass ich nichts mehr hören will. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen." Meine Stimme klingt fest, kalt. Es tut mir weh so mit ihm zu reden, aber er hat mir mehr weh getan. Er hat es nicht verdient, dass ich ihm zuhöre und ihn erklären lasse.

Ich will nur an ihm vorbeigehen, in Richtung der Haustür, aber Bailey hält mich an meinem Arm fest. Mit meiner anderen Hand schlage ich seine weg. „Fass mich nicht an", zische ich wie eine Schlange. Wenn es möglich wäre, würde Bailey hier und jetzt tot umfallen. Er schüttelt leicht den Kopf. „Es tut mir leid", murmelt er leise, sodass ich ihn kaum hören kann.

Ich nicke, weil ich weiß, dass er es bereut und es ihm ehrlich leid tut. Was nichts an der Tatsache ändert, dass er mich mit seinen Worten mehr verletzt hat, als es jemand anderes könnte. Meine Beine fühlen sich an als wären sie aus Blei, ich muss mich zwingen die kleine Stufe zur Haustür aufzusteigen und ihm keine Zeit zu geben, um zu reden. Ich muss mich zwingen den Schlüssel ins Schloss zu stecken und ihn wortlos zurückzulassen. Er hat keine Aussprache verdient. Er hat es nicht verdient, dass ich ihm verzeihe. Wieder.

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