Kapitel Vierundvierzig ~ Josys Besuch

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Als Kyle und ich wieder bei seinem Auto ankommen, ist mein Kopf wie leer gefegt. Stattdessen kann ich mich nur auf meine brennende Lunge, das Ziehen in meinen Beinen und meine ungleichmäßige Atmung konzentrieren. Wir sind jetzt schon das zweite Mal laufen und so langsam verstehe ich, warum Kyle immer so begeistert vom Sport spricht.

Ich lehne mich an der Beifahrertür ab und trinke aus meiner Wasserflasche, die ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen habe. Wahrscheinlich muss ich wie ein Idiot ausgesehen haben, doch dank des kalten Wetters ist sowieso kaum jemand hier. Vereinzelt sieht man jemanden seinen Hund ausführen, mehr aber auch nicht.

Über meine Flasche hinweg schaue ich in den Park und schrecke auf, als ich denke die Person zu erkennen, die mit Kapuze auf dem Kopf an uns vorbeijoggt. Sofort jogge ich ihm Person hinterher und halte sie am Arm fest.

„Noah, was machst d..." „Entschuldigung?", der Mann, von dem ich gerade noch dachte, dass er Noah ist, dreht sich empört zu mir um und reißt sich von mir los. Erschrocken starre ich ihm ins Gesicht.

„Das tut mir leid", entfährt es mir. „Ich habe sie verwechselt", versuche ich mich zu erklären, doch da geht er schon weiter. „Nur irre hier im Park", höre ich ihn noch murmeln, dann ist er schon wieder außer Reichweite.

Aus den Augenwinkeln sehe ich Kyle, der sich neben mich stellt. Immer noch perplex, starre ich gerade aus. Ich hätte schwören können, dass das Noah war.

„Man Ivory, du bist ziemlich durch den Wind, huh?" Kyle legt einen Arm um mich und schiebt mich zurück ans Auto. Dabei kann ich nicht wirklich sagen, ob ich gelaufen bin oder nicht. Mein Kopf ist nur bei Noah und es treibt mich noch in den Wahnsinn.

„Ivory", Kyle fuchtelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Ja."

Die Fahrt nachhause verläuft größtenteils still. Einzig sein Radio sorgt dafür, dass die Stille uns nicht erstickt.

Es kann nicht normal sein, dass ich schon Anfange Noah zu sehen, wenn er es gar nicht ist. Seitdem er abgehauen ist, habe ich keinen richtigen Schlaf mehr bekommen und jetzt scheine ich auch noch verrückt zu werden.

Kyle parkt das Auto vor dem Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne und schaltet den Motor aus.

„Ich mache mir Sorgen um dich", beginnt er und sieht mir direkt in die Augen. Kopfschüttelnd wehre ich seinen Versuch ab. „Nicht jetzt, Kyle. Ich habe nur ein bisschen wenig geschlafen."

„Und wessen Schuld ist das?" Er verzieht wütend das Gesicht. „Der Kerl raubt dir den Schlaf und hat wahrscheinlich nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei", ich merke das Kyle sich immer mehr in seine Wut reinsteigert.

„Das ist nicht Noahs schuld", zumindest nicht seine Schuld alleine. Wir haben uns beide in diese Situation geritten.

„Du hast einen Mensch angefallen, weil du dachtest, es wäre er", erinnert er mich und sieht aus dem Fenster. Seufzend reibe ich mir die Schläfe. „Ich möchte nicht darüber sprechen."

Kyle schnaubt auf, sagt aber nichts mehr weshalb ich den Gurt um meine Brust löse und aussteige. Er wird das schon verstehen und selbst wenn nicht, wird er damit klarkommen müssen. Natürlich ist die Situation nicht leicht und es nimmt mich mit, aber ich bin nicht die Erste, der so etwas passiert ist. Glaube ich.

Am nächsten Tag sitze ich wieder mit Papa im Wintergarten des Krankenhauses. Der Vorfall von gestern ist schon fast vergessen und mit Kyle konnte ich auch reden. Wir haben es beide nicht so gemeint und waren gereizt.

„Was ist in deinem Leben so los?", Papa sieht fragend zu mir. Schulterzuckend nippe ich an meinem Tee, den Blick auf den Park gerichtet. „Komm schon, wir reden immer nur über mich", meckert er weiter. Lachend drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. Die eigentlichen Themen, über die wir seit Tagen reden sind Fußball und Mama beziehungsweise sein ungeborenes Kind. Ich weiß, dass er eines der Ultraschallbilder immer bei sich hat.

„Es ist nicht viel los um ehrlich zu sein. Die Arbeit verschluckt viel Zeit." Nein, ich habe ihm noch nicht gesagt, dass ich unfreiwillig befreit wurde und ich habe es auch nicht vor. Er war von Anfang an so stolz und da ich hoffe, dass das nur eine vorübergehende Sache ist, ist es nicht nötig darüber zu reden.

„Ich bin froh, das du deinen Weg gehst", bemerkt er stolz.

„Das bin ich auch", ich weiche seinem Blick aus, doch das scheint ihm nicht aufzufallen.

Eine der Schwestern betritt den Wintergarten und wendet sich zu Papa. Ihre Haare stehen aus allen Richtungen ab, sie sieht übermüdet aus.

„Ich soll sie zu ihrer Behandlung abholen", lächelnd beugt sie sich zu meinem Vater runter, der stumm nickt und zu mir sieht. Ich versichere ihm morgen wiederzukommen. Durch meine häufigen besuche weiß ich, dass er danach seinen Schlaf braucht.

Bis zum Behandlungsraum begleite ich ihn noch, wo ich mich von ihm verabschiede und seufzend an die weiße Wand lehne.

Ich hasse es, dass ich ihn dabei alleine lassen muss, doch eine andere Wahl habe ich nicht.

„Ivory", Niklas taucht hinter mir auf. „Ich habe gehofft, das ich dich noch erwische", er wirkt, als wäre er den Weg hierher gerannt. „Hey", ich begrüße ihn mit einer Umarmung die er grinsend erwidert. „Was hältst du davon, wenn wir am Freitag essen gehen?"

Ich erinnere mich an meine Zusage vor ein paar Tagen. Noch immer bin ich der Meinung, das an einem Essen nichts auszusetzen ist.

„Klar", antworte ich deshalb.

„Um halb acht hole ich dich ab, ich freue mich schon!" Niklas versucht es zu unterdrücken, doch das Grinsen in seinem Gesicht zeigt mir, das er sich freut. Ich kann mir gut vorstellen, dass man als Arzt nicht viel Freizeit hat. Vielleicht ist er einfach froh rauszukommen und etwas zu unternehmen.

Damit er weiß, wo er mich abholen muss, tauschen wir unsere Nummern aus und ich schicke ihm meine Adresse. Dabei fällt mir wieder einmal ins Auge, dass Noah sich noch immer nicht gemeldet hat. Bis Freitag hat er noch Urlaub und sofern er diesen nicht verlängert, wird er am Montag wieder an seinem Arbeitsplatz blicken lassen.

Müde steige ich in meinen Wagen und fahre nachhause. Erst als ich die vielen Kinder in Kostümen auf den Straßen sehe, fällt mir wieder ein das heute Halloween ist. Als Kind habe ich es geliebt mich zu verkleiden und abends um die Häuser zu ziehen. Heute vergesse ich solche Sachen schnell, ich denke das ist so, wenn man erwachsen ist.

Zu Hause wartet niemand auf mich. Mama liegt schon im Bett und von Josy erwarte ich, dass sie wieder unterwegs ist bis ich es plötzlich in ihrem Zimmer rumpelt.

Verwirrt klopfe ich an und öffne die Tür und was ich dort sehe, lässt mich sofort wieder die Tür schließen.

Scheiße, scheiße, scheiße.

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