Kapitel Achtunddreißig ~ Ein Anruf

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„Hallo", ich halte das Handy mit zittrigen Fingern fest. Als ich die Stimme eines Mannes hören kann, fühlt es sich an, als wäre meine Stimme verschwunden. Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, in der ich nichts sage, weil ich unfähig dazu bin. „Hallo?", wieder dieselbe Stimme, diesmal klingt er genervt.

„Äh.. Hey", streng dich an Ivory. Meine andere Hand umklammert fest das Lenkrad. „Ich brauche Geld." schon bevor ich zu Ende gesprochen habe, würde ich meinen Kopf am liebsten gegen die Fensterscheibe hauen.

Ein raues Lachen erklingt am anderen Ende des Telefons. „Das ist mir klar, süße. Ich brauche einen Namen." die Art wie er mit mir spricht, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Du machst das für Papa.

Nur für Papa.

„Ivory. Ivory Scales", ich bin mir sicher, dass man meine Tränen durch das Telefon hören kann. Tränen aus Angst und Verzweiflung.

„Das ist doch schon mal ein Anfang." Ich glaube fast schon ein Grinsen in seiner Stimme zu hören. Mein Herz klopft so laut gegen meinen Brustkorb, dass ich Angst habe es springt heraus.

Der Mann, der sich mir als Johnny vorgestellt hat, versichert mir, dass er das Geld in zwei Tagen zusammen hat. Erst als ich den roten Hörer drücke, kann ich erleichtert ausatmen und sacke auf meinem Sitz zusammen.

Jetzt ist es zu neunzig Prozent sicher, dass sie Papa weiter behandeln. Ich muss es nur rechtzeitig abgeben und dann wird nichts weiter passieren.

Hoffentlich geht nichts mehr schief. Es darf nichts mehr schiefgehen.

Ich starte den Motor und fahre nach Hause. Nicht, weil ich es unbedingt will, sondern weil ich es muss. Ich muss schauen, ob es Mama und Josy gut geht. Seit gestern habe ich von beiden nichts mehr gehört. Die Straßen sind frei, was dafür sorgt, dass ich gut durch komme und vom Krankenhaus nicht länger als fünfzehn Minuten brauche.

Es ist still, als ich die Tür aufschließe und meine Tasche, sowie meine Jacke an den Haken hänge.

„Mama?", rufe ich und werfe einen Blick in die Küche. Sie ist genauso leer wie das Wohnzimmer und auch Josys Zimmer. Als Letztes gehe ich im Schlafzimmer nachschauen, wo ich Mama letztendlich finde. Sie sitzt weinend auf dem Bett und hält eine braune Kiste in der Hand.

„Hey", ich setze mich neben sie und streiche ihr sanft über den Arm. Sie nickt mir zu, behält den Blick jedoch weiterhin auf der kleinen Schachtel. In ihrer Hand hält sie ein Taschentuch, mit dem sie sich immer wieder Tränen von den Wangen wischt.

„Dein Vater hat das nicht verdient", schluchzt sie in die Stille hinein und greift nach einem Foto. Zusammen mit ihr sehe ich es mir an und erkenne Papa, wie er Josy auf seinen Schultern trägt. Ich erkenne unser Haus und den Baum im Garten. Die alten Erinnerungen reißen alte Wunden auf, die zu bluten beginnen bevor ich sie wieder verschließen kann.

„Alles wird gut", weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, nehme ich sie in den Arm und lasse sie an meiner Schulter weinen. Sie schüttelt nur kaum merklich den Kopf, doch immer noch genug, dass ich es spüren kann.

„Versprochen, Mama. Alles wird gut.." ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das für sie sage oder für mich selbst. Vielleicht für uns beide denn in diesem Moment sind wir beide unglaublich verloren in alten Erinnerungen und altem sowie neuem Schmerzen. Nur untergehen dürfen wir nicht.

Wir sitzen noch eine Weile so da, sehen uns alte Bilder an und obwohl es manchmal weh tut alles zu sehen, was wir hatten, lenkt es uns doch ein bisschen von allem anderen ab.

Nachdem ich mich mehrmals versichert habe, dass es für Mama okay ist, packe ich eine kleine Tasche mit Kleidung und mache mich auf den Weg zu Noah. In unserer Wohnung fällt mir die Decke auf den Kopf, alles erschlägt mich. Und da Josy mir versprochen hat bei ihr zu bleiben, ist mein schlechtes Gewissen nicht ganz so groß. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich die beiden mit den Problemen alleine lassen.

Schon als ich den Wohnkomplex, in dem Noah wohnt, von weitem sehe, macht sich ein wohliges Gefühl in mir breit. Ich fühle mich so viel wohler bei ihm, als irgendwo sonst.

„Hey", Noah begrüßt mich mit einer Umarmung und einem Kuss, als ich an seiner Tür stehe. Er trägt noch immer seine Anzughose und das Hemd. „Wie lange bist du schon zu Hause?", frage ich, stelle meine Sachen im Eingang ab und folge ihm wie immer in die Küche.

Ein Blick auf die Kochinsel verrät mir, dass er offenbar schon mit meinem Erscheinen gerechnet hat, denn es stehen zwei Teller draußen. „Nicht lange", beantwortet er meine Frage und holt eine Schachtel mit Salat aus dem Kühlschrank. „Deshalb gibt es auch Salat vom Italiener und nicht von mir", grinsend hebt Noah die Schachtel nach oben. Kopfschüttelnd und trotzdem lachend wende ich mich von ihm ab, um uns zwei Weingläser zu holen.

Mit Noah in meiner Nähe habe ich das Gefühl, dass jede Last von mir abfällt und ich endlich wieder atmen kann.

Gemeinsam setzen wir uns an den Tisch und essen schweigend. Meine Gedanken sind über all gleichzeitig. Bei Papa, bei Mama, bei den Schulden.

„Wie geht es deinem Vater?" Noah sieht mich an, nimmt meine freie Hand in seine und streift beruhigend mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Ich lächle matt über seine Geste und stochere in meinem Essen. „Ganz okay. Er hat sich noch nicht damit abgefunden im Rollstuhl zu sitzen", erzähle ich.

Noah nickt verstehend, wobei ich nicht glaube, dass er, das wirklich verstehen kann, selbst wenn er es wollte.

„Ich bin noch immer bereit das Krankenhaus zu bezahlen", wirft er, fast schon nebenbei, in die Stille, die uns einhüllt. Reflexartig schüttle ich den Kopf. „Das will ich nicht." Bei allem, was Noah tun könnte, er soll nicht für solche Summen aufkommen.

„Ivory, das würde euch helfen. Sei nicht so stur."

„Ich habe das Geld", bestätige ich mit einem Nicken. Mir fällt erst Sekunden später auf das ich zu weit voraus geschossen bin. Noah wirkt verwundert und sieht mich fragend an. „Muss ich mir Sorgen machen?"

Wieder sieht er mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgung an. Kopfschüttelnd verneine ich. „Es ist alles gut."

Das in Wahrheit nicht alles gut ist, muss ich ihm nicht sagen, aber er belässt es bei meiner Aussage, ohne weiter nachzufragen. Es ist gut so, wie es ist. Alles passiert zu seiner Zeit und bis jetzt, habe ich die Situation unter Kontrolle.

Nach dem Essen setzen wir uns wieder an meinen Lieblingsplatz und schauen gemeinsam auf die Stadt hinunter. Die Lichter lenken mich für einen Moment ab, lassen mich vergessen was uns alles noch bevor steht.

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