Kapitel Neunundzwanzig ~ Scarlett

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Ich bin zu früh dran. Viel zu früh, wenn man bedenkt, dass ich eigentlich erst um acht Uhr anfangen müsste. Doch die Stimmung zu Hause ist seit dem Geständnis meiner Eltern auf einem Tiefpunkt. Vielleicht war es nicht okay von mir hysterisch zu werden und sie zu fragen, wie sie sich das vorstellen, ihr sowieso schon schwieriges Leben mit noch einem Baby zu wuppen, allerdings haben sie es mir auch nicht einfacher gemacht.

'Das wird schon' haben sie gesagt, beide mit Vorfreude, die ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Auch Josy hat sich für sie gefreut, gequietscht und jeden wissen lassen wie toll es doch ist, dass sie bald nicht mehr die jüngste in der Familie sein wird. Dabei habe ich mich mit jeder Sekunde mehr und mehr gefragt ob irgendjemand in dieser Familie noch einen Funken Verstand besitzt.

Das ist ein Baby, ein Lebewesen. Das mehr braucht als nur Luft und Liebe um zu überleben.

Es ist fünf nach sieben, als ich die Firma betrete in meiner Hand zwei Coffee to Go Becher, einer davon gefüllt mit Tee.

Ich bin froh noch ein paar Minuten zu haben, bevor ich wirklich anfangen muss zu arbeiten. Die Blicke meiner Kollegen kommen mir heute noch komischer vor als gestern. Entweder hat sich das Gerücht noch weiter verbreitet oder ich bilde es mir nur ein. Innerlich hoffe ich, dass es letzteres ist.

Das gewöhnte Ping ertönt, ich steige mit einigen anderen aus dem Auszug und mache mich direkt auf den Weg in mein Büro. Hinter einer der großen Glaswände sehe ich ein paar meiner weiblichen Kollegen, die in einem kleinen Kreis stehen und miteinander reden. Als sie mich sehen, beginnt Janette zu lachen. Ich kenne sie nicht wirklich, wir hatten nie etwas miteinander zu tun, jedoch werde ich das Gefühl nicht los das sie dort gerade über mich reden.

Kopfschüttelnd öffne ich die Tür zu meinem Büro, stelle meinen Becher ab und ersetze ihn durch ein paar Unterlagen, die Noah unterschreiben muss.

Auch in seinem Büro brennt schon Licht, was mich aber nicht verwundert denn Noah ist fast immer früher hier als ich.

„Guten Morgen", murmle ich, stelle seinen Kaffee sowie die Unterlagen auf seinem Tisch ab. Er schaut überrascht von seinem Computer hoch und begrüßt mich ebenfalls.

„Danke für den Kaffee." Er nimmt einen Schluck und stellt ihn wieder ab. Mein Blick liegt dabei die ganze Zeit auf seinen Lippen, die sich langsam zu einem Grinsen verziehen.

„Die musst du unterschreiben", ich deute auf den Stapel vor seinem Tisch und sehe von ihm weg. Ich weiß nicht was es ist, aber ich kann einfach nicht aufhören ihn anzusehen. Und eigentlich will ich auch nicht aufhören.

Weil Noah nichts weiter sagt und ich nicht noch länger in seinem Büro stehen und ihn anstarren möchte, setze ich mich an meinen Schreibtisch und schalte den Computer an. Während der hochfährt, sehe ich seufzend aus dem verregneten Fenster. Bald ist schon der Oktober rum. Würde ich es nicht am Kalender sehen, dann an den fallenden Temperaturen und den Blättern die den Boden schmücken.

Trotz all der Probleme, die mir die letzten Wochen bereitet haben, sind die fast sieben Wochen, in denen ich schon wieder zu Hause bin wie im Flug vergangen.

Niemals hätte ich gedacht das sich so viel verändert hat und sich auch jetzt noch verändert. Nicht, dass meine Eltern das Haus verkaufen mussten, nicht das meine kleine Schwester gar nicht mehr so klein ist, das Bailey und ich uns hassen und erstreckt nicht, dass ich mich in Noah verlieben würde. Mit nichts von all dem hätte ich gerechnet.

Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meinen Gedanken.

„Noah McKenzie's Büro, Sie sprechen mit Ivory Scales." Ich setze mich aufrecht auf meinen Stuhl und halte Kugelschreiber sowie Notizblatt bereit.

„Guten Morgen", meldet sich eine weibliche Stimme. Sie wirkt kurz verunsichert, räuspert sich dann aber. Einen kurzen Moment herrscht Stille, in der ich davon ausgehe, dass sie noch etwas sagt.

„Ich würde gerne Noah sprechen." Mir kommt die Frage in den Kopf, wie viele Frauen Noah eigentlich kennt und was er mit ihnen will.

„Dazu müssten Sie mir ihren Namen verraten", bemerke ich, den Kugelschreiber zwischen den Lippen. Eine dumme Angewohnheit, aber ich kann es einfach nicht sein lassen.

„Scarlett", flüstert sie kaum hörbar. „Scarlett Harvest-McKenzie."

Ich starre verwirrt auf meinen Monitor, als würde ich erwarten, dass er das große Fragezeichen in meinem Kopf verpuffen lässt. Es dauert einen Augenblick, bis ich mich wieder gefangen habe.

„Einen Moment bitte", ich schalte das Telefon auf Stumm, lege es beiseite und marschiere zu Noahs Tür. Ohne zu warten, öffne ich sie.

Ein paar grüne Augen schwenken zu mir herüber, sehen mich fragend an.

„Eine Gewisse Scarlett möchte dich sprechen. Leitung drei." Noahs Augen weiten sich sichtlich. Unsicher zupft er an seiner Krawatte und setzt sich aufrecht hin. Etwas das alle tun, die in einem Büro arbeiten.

„Äh.. Du kannst sie durchstellen", stammelt er vor sich hin, weicht dabei meinem Blick aus. Nickend gehe ich zu meinem Schreibtisch, drücke den Freigabeknopf und starre auf die Tür. Scarlett Harvest-McKenzie. Ich weiß das Noah einen Bruder hat, aber seine Freundin hieß Joanna wenn ich mich richtig erinnere. Grübelnd lehne ich an meinen Schreibtisch, den Blick immer noch auf der Tür. Hören kann ich nichts und obwohl es falsch ist und ich das nicht machen darf, schleichen meine Beine schon fast von alleine zur Tür. Ich drücke mein Ohr ran, kann aber nicht viel hören.

„Du sollst mich nicht auf der Arbeit anrufen", Noah wirkt gereizt, ich kann hören wie er auf und ab geht.

Wieder herrscht Stille, in der mein Herz so laut rast, dass ich Angst habe zu verpassen was Noah noch sagt.

„Das ist mir egal."

Es ist leise, das einzige, was ich hören kann, ist, wie mein Herz wild gegen meine Brust hämmert und meine innere Stimme, die mich anschreit, dass mich das hier nichts angeht.

„Ich hätte sie nie bei dir lassen sollen. Bring dein Leben auf die Reihe, Scar. Tom holt sie um fünf." Dann höre ich nur noch, wie Noah den Hörer frustriert auf die Station knallt und seufzt.

Stirnrunzelnd lehne ich mich gegen den Türrahmen. Noah scheint mehr Probleme zu haben, als er zugeben will.

Und weil ich so abgelenkt von dem bin, was ich da gerade gehört habe, bekomme ich nicht mit das er direkt hinter mir steht. Erst als er sich laut räuspert, begreife ich, was Sache ist.

„Belauscht man jetzt andere Leute?" Noah presst die Lippen aufeinander und sieht mich mit glühenden Augen an. Plötzlich ist mein Mund staubtrocken, ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich weiß nicht mal was ich denken soll.

„Ich.. äh.. Du verstehst das voll falsch", versuche ich zu erklären, doch es scheint vergebens. Meine beste Ausrede war das nicht. Kopfschüttelnd geht Noah an mir vorbei, schnappt sich seine Jacke und will gehen.

„Wer war das?" Die Frage rutscht mir schneller raus, als ich darüber nachdenken kann. Abwartend sehe ich zu dem blonden Schopf, der mit dem Rücken zu mir steht. Ich höre ihn seufzen.

„Das geht dich nichts an." Ich kann deutlich hören, dass Noah sich zusammenreißen muss. Aber ich brauche Antworten.

„Vielleicht kann ich helfen. Rede mit mir, Noah. Was hast du schon zu verlieren?"

„Es geht dich nichts an, Ivory. Nicht einen feuchten Dreck. Also geh an die Arbeit und tu das, wofür ich dich bezahle."

Noah verlässt den Raum, lässt die Tür zuknallen und mich noch verwirrter zurück, als sowieso schon.

Frustriert fahre ich mir durch die Haare. Immer mehr Fragen türmen sich in meinem Kopf auf. Immer wieder passiert etwas, über das Noah offensichtlich nicht mit reden will. Immer wieder lässt er mich stehen.

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