Mein Schlaf war dürftig. Die meiste Zeit habe ich wach gelegen, nachgedacht und bin daran beinahe verzweifelt. Nicht nur Bailey und Noah haben sich in meine Gedanken geschlichen, sondern auch Jerry. Jedes Mal, wenn ich die Augen geschlossen und versucht habe zu schlafen, ist sein betrunkenes Gesicht wieder vor mir aufgetaucht und wie er versucht hat mich anzufassen. Was letztendlich dazu geleitet hat, dass ich daran denken musste, wie sehr ich ohne Baileys Eingreifen aufgeschmissen gewesen wäre.
Wie ein Zombie putze ich mir die Zähne, ziehe meine Kleidung an und gehe in die Küche. Mama ist schon wach, hat Kaffee gekocht, von dem ich mir eine Tasse nehme, weil ich ihn dringend brauche. Seit der Hochzeit vor vier Tagen haben wir nicht miteinander geredet. Zum einen, weil wir uns kaum gesehen haben und zum anderen, weil wir nur noch selten dem anderen etwas zu sagen haben.
„Wie läuft dein Praktikum?" Sie versucht es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, während sie ein Brot mit Sirup beschmiert. Schulterzuckend sehe ich auf die Wand mit den vielen Bildern die Josy und ich als Kinder gemalt haben. Ein Wunder, das es die immer noch gibt.
„Ganz gut, denke ich." Meine Verwunderung über ihr Interesse scheint sie zu bemerken.
„Ich frage nur, weil wir das Geld gebrauchen können." natürlich ist es wieder das gute Geld, um das es meiner Mutter geht. Es ist nicht möglich, dass sie sich nur meinetwegen dafür interessiert. „Nächste Woche werde ich ausbezahlt."
Das ist die Information, die sie braucht, die einzige die sie interessiert.
Sie nickt verstehend, räumt das Glas mit dem Sirup in den Schrank, und setzt sich an den Tisch.
„Papas Krankenhausrechnungen treiben mich noch in den Wahnsinn", beginnt die blonde Frau vor mir plötzlich zu sprechen. Mir ist nicht klar was ich darauf antworten soll, denn irgendwie war es ja auch mein Studium, das sie in diese Lage verfrachtet hat. Das Ticken der Küchenuhr scheint mir plötzlich erdrückend laut. „Seine Behandlungen sind teuer, Ivory", meine Mutter sieht mich an und was ich in ihren Augen sehen kann, ist Müdigkeit. Die Sorgen um Papa, das Geld, all das scheint sie mehr zu mürben als ich dachte.
„Aber sie sind notwendig und sie helfen", ist das einzige, was ich dazu sagen kann. Ich weiß nicht auf wie viel sich die Rechnungen insgesamt belaufen, kenne nur Klecker Beträge, welche mein Praktikantenverdienst nicht ausgleichen kann. Mama nickt, als müsse sie sich selbst einreden, dass sie notwendig sind. Mir fällt auf, dass ich nicht einmal genau weiß, was Papa eigentlich hat. Als Tochter ist das traurig.
Als ich in die Firma komme, ist alles wie immer. Anmelden bei Nadine, Mrs. Stetson grüßen und in mein Büro. Wieder bin ich früher da, weil der Berg an Arbeit heute kaum weniger aussieht. Jeden Tag kommt mehr dazu und dank Noahs Verstimmungen darf ich seine Unterlagen noch irgendwie miteinbringen. Doch diesmal bin ich gewappnet. Meine eineinhalb Liter Flasche Wasser stelle ich auf den Tisch, mein Essen lasse ich allerdings noch in der Tasche. Es ist mehr als ein Apfel, aber auch nicht viel. Unser Kühlschrank ist mager bestückt.
Einkaufen notiere ich mir innerlich auf die Liste der Dinge, die ich nach der Arbeit tun muss. Noah ist noch nicht da, sein Büro noch dunkel. Während der Computer langsam und nur mit Murren zum Starten kommt, starre ich die Tür zu Noahs Büro an. Ich habe einen Schlüssel und für einen kurzen Moment juckt es mich in den Fingern, in seinem Verlauf nachzusehen mit wem er dort telefoniert hat. Das geht dich nichts an, mahnt meine innere Stimme drohend. Sie hat recht, es geht mich nichts an.
Nachdem mein Computer, wenn auch unfreiwillig dazu bereit ist, zu arbeiten, fange ich dort an, wo ich am letzten Abend aufgehört habe. Tabellen füllen, Einträge verzeichnen, Rechnungen schreiben, Bewerbungen weiterleiten. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich täglich in dieser Firma bewerben ungeachtet dessen, dass so viele Mitarbeiter gar nicht gesucht werden. Die meisten Menschen sind, so wie ich, junge Leute, die gerade ihr Studium beendet haben. Dass ich nur dank Noah und seinem Vater hier sitze, wird mir wieder einmal bewusst.
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Blue Jeans
Teen FictionIvory und Noah waren beste Freunde. Nichts konnte die beiden trennen, zumindest dachte Ivory das, bis Noah eines Tages aus heiterem Himmel den Kontakt zu ihr abbricht. Jahrelang herrscht Funkstille zwischen den ehemals besten Freunden. Erst als Ivor...