Kapitel Fünfunddreißig ~ Alkohol und peinliche Geschichten

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Drei Tage haben wir im Paradies verbracht. Ich nenne es so, weil es mit jedem Tag mehr dazu geworden ist. Heute fahren wir wieder nach Hause und leise Unzufriedenheit schleicht sich wieder zurück. Ich will nicht fahren, will nicht das schöne Haus verlassen, der schönen See auf Wiedersehen sagen und vor allem will ich Noah nicht wieder mit allen Menschen teilen müssen. Die Tage, in denen wir nur einander hatten, haben mir gezeigt, dass da mehr ist. Mehr als Noah zeigen will und vielleicht auch mehr als ich sehen möchte. Aber ich mag ihn zu sehr, um ihn mit seinen Problemen alleine zu lassen.

„Hast du alles gepackt?", Noah steht in der Tür des Schlafzimmers und sieht mit verschränkten Armen auf mich herunter. Ich weiß, dass auch er am liebsten hier bleiben würde, doch uns beide ruft die tägliche Pflicht. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln stopfe ich meine Zahnbürste in die Tasche und nicke. Noah lacht auf, als er meinen Blick sieht. „Wir können noch sehr oft herfahren", antwortet er auf meine stumme Kopfbewegung und zwinkert. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, angesichts der Tatsache, dass er sich schon die ganze Zeit so verhält, als würde er mit mir flirten.

Vielleicht tut er das auch, Dummkopf pfeift meine innere Stimme dazwischen.

Ich lehne mich gegen das Bettgestell und schließe die Augen. Die Ruhe und der Frieden werden mir schon fehlen, wenn wir den ersten Schritt aus der Tür gemacht haben. Aber vielleicht ist das auch normal, wenn man in den Urlaub fährt. Am Ende will man nicht mehr weg, sondern für immer dort bleiben. Nur leider wäre es dann kein Urlaub mehr.

Ich brauche nicht die Augen öffnen, um zu wissen, dass Noah sich zu mir gesellt hat. Sein ruhiger und gleichmäßiger Atem schlägt mir gegen die Wange. Er riecht nach Minze, was wohl an der Zahnpasta liegen könnte.

Entspannt lehne ich mich an seine Schulter und öffne die Augen. Mein Blick fällt auf seine Hand, die auf meinem Oberschenkel liegt und obwohl es verdammt riskant ist, das zu tun, nehme ich sie und verschränke sie mit meiner. Einen Moment warte ich ab was passiert, ob er sie zurückzieht oder irgendetwas sagt, doch er tut nichts davon, sondern seufzt einfach nur zufrieden auf. Die Situation erinnert mich an unseren ersten Abend hier. Wir haben gegessen, Wein getrunken und uns vor dem Kamin peinliche Geschichten erzählt.

'Du zuerst!' hatte ich gelacht und mit meinem Finger auf ihn gezeigt. Der Alkohol Anteil in meinem Blut war schon extrem gestiegen und trotzdem konnte ich nicht von meinem Weinglas lassen. 'Okay' Noah nickte nachdenklich und sah an mir vorbei aus dem Fenster. Nach nicht einmal zehn Sekunden leuchtete sein Gesicht merklich auf und seine Aufmerksamkeit galt wieder mir. 'Du kennst doch sicherlich noch Onkel Jones?' fragte er dann. In meinem Kopf tauchten sofort Bilder von einem Mann mit fettigen locken auf, der immer schwitzte und Anzüge trug die mindestens zwei Nummern zu klein waren. Damals war Onkel Jones auf jeder Familienfeier der McKenzies zu finden. 'Also' begann er dann und schwenkte das Weinglas in seiner Hand hin und her. 'Es war sein Geburtstag, der wie fast jeder andere auch bei uns gefeiert wurde.' Ich war mir sicher, Noah wollte es nur spannender machen, aber anstatt weiterzureden, setzte er das Weinglas an seinen Lippen an. 'Da war dieses echt heiße Mädchen, von dem ich nicht mehr die Augen lassen konnte. Ich meine holla, sie war perfekt', begann er zu schwärmen. Augenrollend nahm ich mein Weinglas und kippte den Rest meinen Hals herunter. 'Jedenfalls, ich unterhielt mich mit ihr, eins kam zu dem anderen und plötzlich waren wir dann im Nebenzimmer gewesen, wo die Torte stand.' In meinem Kopf bastelte sich schon ein Bild, von dem zusammen, was dort passiert sein könnte, doch Noah schüttelte wissentlich den Kopf und deutete mir, ihn aussprechen zu lassen. 'Wir haben uns also auf das rote Sofa gesetzt und ... Naja du weißt schon', er nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas. Neugierig stöhnte ich auf. 'Plötzlich ging die Tür auf und dort standen sie. Und mit sie meine ich meine halbe Familie. Vor Schreck hat sie mich dann von sich herunter geschubst und dreimal darfst du raten, wer gestolpert und auf die Torte gefallen ist.' Ich schüttelte ungläubig mit dem Kopf, die Hand vor dem Mund, was aber nicht verhindern konnte, dass ich in Lachen ausbrach und mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. 'Oh und es kam heraus das sie seine Stieftochter war' fügte er Schulterzuckend hinzu, woraufhin ich nur ein erschrockenes 'niemals!' antworten konnte. 'Okay, jetzt bist du dran' versuchte er schnell abzulenken und kam ein bisschen näher. Wir saßen beide im Schneidersitz und unsere Knie berührten sich. Ich konnte nicht anders, als auf die Stelle zu starren. Seufzend fing ich dann an zu erzählen. 'In der achten Klasse, gab es doch noch den Schwimm Unterricht', begann ich. Noah nickte verstehend. Wir besuchten die gleiche Schule, nur das er ein paar Stufen über mir war. 'Wir Mädchen hatten immer diesen dummen Wettstreit laufen, wer es wohl als Erstes zur Umkleide schaffen und sich als Erstes umziehen würde. Und da war Yvonne Fischer, die hat immer gewonnen' meine Stimme verzog sich genauso wie mein Gesicht. Yvonne konnte ich nie leiden. Sie war immer die beste - in allem. 'Ich wollte unbedingt gewinnen! Also drängte ich mich an meinen Mitschülern vorbei, rannte zu den Umkleiden und zog mich, so schnell ich konnte aus.' Dankbar für den Alkohol holte ich Luft und setzte erneut an. 'Ich stand also splitterfasernackt in der Umkleide und kramte nach meinem Bikini, als plötzlich zwei Jungs aus meiner Klasse vor mir standen und mich direkt anstarrten.' Noah begann bereits zu lachen, bevor ich überhaupt zu Ende erzählen konnte. 'Du warst das nackte Gespenst!' rief er laut aus und hielt sich den Bauch. Mit hochrotem Kopf schüttelte ich den Kopf. Ich wusste, dass ich damals so genannt wurde, war, aber froh darüber das niemand wusste, wer das nackte Gespenst eigentlich war. 'Hör auf!' rief ich verzweifelt aus und schlug ihm gegen die Schulter, doch Noah war nicht aufzuhalten und obwohl ich in diesem Moment nicht nur beschämt, sondern auch ein klein wenig sauer auf mich selbst war, war Noahs Lachen, das einzige worauf ich mich wirklich konzentrieren konnte. 'Ich glaub's nicht', kicherte er weiter, woraufhin ich mich wütend auf ihn stürzte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch anstatt ihm das Kissen in sein Gesicht zu drücken, wie ich es eigentlich vorhatte, starrte ich in seine Augen und war wie gefesselt. Nach kurzer Zeit bemerkte er was hier passierte, aber tat nichts dagegen - im Gegenteil. Er drückte seine Lippen zum zweiten Mal auf meine und es fühlte sich so viel besser an als das erste Mal, als das eine mal wo wir beide so geladen waren. Und der Rest ist unsere Geschichte.

„Nicht schlafen", Noah setzt mich aufrecht hin und steht auf. Schon jetzt vermisse ich seine Schulter an meinem Kopf, aber wir müssen jetzt los. Kopfschüttelnd tue ich es ihm gleich und folge ihm in den Flur um mir Jacke und Schuhe anzuziehen. Mein Blick wandert zu dem kleinen Spiegel. Ich sehe frischer und lebendiger aus. Meine Augenringe sind weniger geworden und meine Haut strahlt mehr. Ich bin mir sicher, es liegt an Noah und daran, wie glücklich ich die letzten Tage war.

Draußen scheint die Sonne und der Wind weht die losen Blätter von den Bäumen. Wir haben es nicht weit bis wir am Auto sind. Noah sieht über das Dach hinweg zu mir und schmunzelt. „Weißt du, wie sehr ich das vermissen werde?", fragt er mich und sieht mich verträumt an. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. „Ich auch", murmle ich zurück. „Ich auch."

Wir fahren zwei Stunden sagt das Navi, welches an der Fensterscheibe hängt und uns den Weg anzeigt. Ich sehe aus dem Rückspiegel zu, wie das Haus immer mehr in die Ferne rückt und mein Sichtfeld dann ganz verlässt. Seufzend sinke ich in den Beifahrersitz und lausche der Musik von Trading Yesterday, die leise im Hintergrund spielt.

Meine Augen wandern zu Noahs Hand, die auf der Lehne in der Mitte abgelegt ist. Die Versuchung ist groß, meine darauf zu legen aber ich lasse es letztendlich sein. Man soll das Schicksal nicht zu sehr herausfordern hat Mama mal gesagt.

Bei dem Gedanken an meine Mutter fällt mir auf, dass ich mein Handy mal wieder einschalten sollte. Noah und ich hatten beschlossen die Geräte auszulassen, solange wir noch im Urlaub waren. In meiner Handtasche krame ich nach dem kleinen Gerät und schalte es wieder ein. An meinem Akkustand hat sich offensichtlich nicht viel verändert. Das ständige vibrieren nach dem Einschalten lässt mich verdutzt Aufsehen.

Vierundzwanzig verpasste Anrufe von Mama und sechs von Josy.

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