Kapitel Zwanzig ~ Vio, Mary & Tee

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Mit mulmigem Gefühl fahre ich auf den Firmenparkplatz. Ich weiß nicht, ob es an dem Alkohol vom Vortag, der komischen Situation zwischen mir und Noah oder am Wetter liegt. Aber ich fühle mich einfach ausgelaugt und würde am liebsten in meinem Bett liegen. Vio ist schon da, steigt aus, als sie mich sieht, und kommt auf mein Auto zu.

Schon als ich die Autotür öffne, kommt mir der Geruch von Regen entgegen. In Radio wurde ein Unwetter angekündigt, dass es aber so schnell hier herziehen würde, hätte ich nicht erwartet.

„Hey", Vio zieht mich zur Begrüßung in eine Umarmung. Ich grüße sie zurück, während sie mich wieder loslässt. „Es ist nicht weit", erklärt sie, als sie meinen Blick nach oben bemerkt. Wir laufen von dem Firmengelände runter in eine der Seitenstraßen.

Ich kenne mich im Gegensatz zu Vio kein bisschen in dieser Stadt aus. Nur den Weg zur Arbeit und wieder nachhause kenne ich fast schon auswendig. Und den zu Noah. Seine grünen Augen blitzen wieder vor mir auf und wie sie mich letzte Nacht angesehen haben. Mir ist klar, dass Noah viel vor mir zu verstecken scheint, doch habe ich kein Recht darauf, es zu wissen. Er ist mir nichts schuldig. Nicht in diesem Sinne. Irgendwann wird es so weit sein und wir werden über das, was in der Vergangenheit passiert ist, reden müssen.

„Du wirkst abwesend", Vio zieht mich an der Kreuzung nach rechts. Die Häuser hier sind bunt bemalt, vielleicht nicht mit den schönsten Bildern und nicht von den größten Künstlern, aber es wirkt durch die vielen Farben wesentlich gemütlicher als die tristen riesigen Gebäude im Zentrum der Stadt. Schulterzuckend laufe ich neben ihr her. Ich bin mir nicht sicher wie viel ich ihr als Freundin anvertrauen kann. Wir kennen uns erst eine Woche, auch wenn sich die Zeit länger anfühlt. Alles fühlt sich hier länger an.

„Ich denke, meine Nacht war ein bisschen kurz." Die Worte verlassen meinen Mund, ohne zu bedenken, wie Vio sie auffassen könnte. Sie gibt einen interessierten und gleichzeitig zweideutigen Ton von sich. Kichernd schüttle ich den Kopf. „Nicht was du denkst." Sofort zieht sie enttäuscht die Mundwinkel nach unten.

„Hier". Sie öffnet eine relativ kleine Tür, zu etwas das nicht nach einem Café aussieht. Schon beim Eintreten fällt mir auf, dass das kein Neubau ist. Es scheint alt, sehr alt zu sein. Die tragenden Balken sind in dunklem Braun gestrichen, wirken dank der etwas sehr altmodischen und rustikalen Einrichtung nicht aufdringlich, sondern fügen sich perfekt in das Bild ein. Es ist warm, Kerzen brennen auf den Tischen in kleinen ebenfalls braunen Holzschalen. „Hey Mary", Vios Stimme hat etwas Warmes, als sie die alte Frau hinter dem Tresen begrüßt. Sie lächelt ebenfalls zurück, ist gerade damit beschäftigt ein Glas abzutrocknen. Vio und Mary scheinen sich schon lange zu kennen, denn die kleine Frau mit bereits grauen Haaren kommt um den Tresen herum und zieht Vio in eine Umarmung. „Das ist eine Freundin von mir, Ivory. Ivory, das ist Mary meine Oma, wenn man so will."

Freundlich schüttle ich Mary die Hand, die sagt, dass wir uns setzen sollen. Das Café ist nicht sonderlich voll, was mich aber auch nicht verwundert. Auf Anhieb ist es dank der vielen Seitenstraßen kaum zu finden.

Während Violett einen Kaffee bestellt, halte ich mich an einen Pfefferminztee mit zwei Stück Zucker. Vielleicht wäre Kaffee die bessere Wahl, wenn man bedenkt, dass der letzte Abend mir noch in den Knochen hängt, allerdings vertrage ich Koffein nur in kleinen Mengen. Zudem bestellt sie uns beiden noch ein Stück warmen Apfelkuchen. Ich habe zwar noch nicht gefrühstückt, aber da sie so enthusiastisch davon redet, kann ich kaum nein sagen.

Erst als Mary in der Tür zur Küche verschwindet, stelle ich Vio meine doch etwas persönliche Frage.

„Was kann ich mir unter ', wenn man so will' vorstellen?

Mein Blick gilt nicht Vio, sondern der flackernden Kerze in der Holzschale. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass sie mit den Schultern zuckt.

„Ich habe keine wirkliche Familie und Mary hat mich damals, als sie noch Zimmer vermietet hat, kostenlos hier schlafen lassen. Mittlerweile sind wir unzertrennlich." In ihrer Stimme liegt so viel Gutherzig und Dankbarkeit, das ich keine Sekunde daran zweifle, wie sehr so etwas zwei Menschen verbinden kann.

„Also", Vio wirkt, als wäre sie gerade au der Vergangenheit wieder in der Zukunft gelandet. Mit neugierigem Blick sitzt sie mir gegenüber und mustert mich. „Was ist gestern Abend noch passiert?" Ich kann sehen, dass sie auf etwas Spannendes brennt, das sie denkt zwischen mir und Noah ist etwas gelaufen von dem ich ihr jetzt berichten würde. Doch Tatsache ist, dass wir so nicht sind. Wir haben so etwas nicht und

in Anbetracht der momentanen Situation werden wir auch nie so etwas sein. Ob ich das will, kann ich nicht mal sagen. Ich weiß nur, dass ich die Zeit mit Noah genieße und dass er trotz der anfänglichen Zweifel kein so schlechter Chef und Zeitgenosse ist. Er hat mir allein in der letzten Nacht mehr Verständnis entgegengebracht, als meine Familie es in Wochen getan hat.

„Ich weiß nicht was du dir erhoffst", doch ich weiß es. „Aber zwischen mir und Noah ist nichts passiert. Er hat mich nachhause gefahren und ist dann selbst nachhause gegangen." Kleine Regentropfen hauen gegen die Fensterscheibe des gemütlichen Cafés, als Mary uns die Getränke und den Kuchen serviert. Sie scheint keine weiteren Mitarbeiter zu haben, sondern alles allein zu wuchten.

„Die Frage ist nicht, was ich mir erhoffe, sondern was du dir erhoffst. Du hast mal angeschnitten das es zwischen euch ein paar Schwierigkeiten gab, aber nie weiter davon erzählt. Jetzt wirkt es so, als würdest du ihm das nicht mehr übel nehmen." Sie nippt an ihrem Kaffee und sieht mich über den Tassenrand weiterhin an. Nachdenklich spiele ich mit dem Henkel meiner Teetasse, mein Blick liegt auf dem Etikett des Teebeutels. „Das ist nicht vergessen", um meine Aussage zu untermauern, schüttle ich den Kopf. „In den letzten Wochen ist nur so viel passiert, dass ich nicht mehr weiß, ob es noch etwas bringt wütend zu sein." Ich sehe seufzend aus dem Fenster, das mittlerweile schon vollständig mit kleinen Regentropfen bedeckt ist. Der Weg zum Auto nachher wird nass werden. Vio nickt verstehend mit dem Kopf. Ihr Blick wirkt ein bisschen mitleidig. Allerdings bin ich mir sicher, dass sie schlimmere Zeiten als ich durch hat.

Vio und ich reden noch eine ganze Weile. Das Thema mit Noah ist Gott sei Dank schnell vergessen. Letztendlich weiß ich gar nicht mehr so genau worüber wir alles gesprochen haben. Viel über sie und ihre familiären Verhältnisse. Auch über sie und Mary, die sich zeitweise zu uns gesetzt und mit uns einen Tee getrunken hatte. Sie hat davon erzählt, dass sie dieses Café schon dreißig Jahre durch gute und schlechte Zeiten gebracht hat. Auch das ihr Mann schon früh gestorben war und sie das als Chance sah, sich um Vio zu kümmern, die damals Hilfe gebraucht hat.

Letztendlich ist es dunkel als wir das Café verlassen. Der Regen hat nachgelassen, tropft aber immer noch auf meine Haare und Vios Regenschirm herunter. Wir haben den ganzen Tag dort verbracht, geredet, gelacht, einander besser kennengelernt. Meine Skepsis ihr gegenüber ist so gut wie verschwunden. Trotzdem habe ich meinen Besuch bei Noah letzte Nacht unausgesprochen gelassen. Das ist nichts, was andere wissen sollten. Außer Mia vielleicht, der ich versprechen musste, sie noch an diesem Abend anzurufen, weil ich mich schon ewig nicht mehr gemeldet habe. Ganz so dramatisch ist es natürlich nicht, aber recht hat sie. Wir finden kaum noch Zeit füreinander, weil wir so beschäftigt, damit sind unser jeweiliges Leben irgendwie auf die Reihe zu bekommen.

Zum Abschied drückt Vio mich, bevor sie in ihren schwarzen Twingo steigt und die paar Blocks nachhause fährt. Meine Nachhausefahrt ist still, aber ich bin seit langem Mal wieder zufrieden. Der Tag mit Vio war Entspannung, genau das, was ich gebraucht habe.

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