Nachdem Noah mich wieder nachhause gefahren hat, hat er mich um ein bisschen Zeit für sich selbst gebeten. Und auch wenn noch so viele Fragen offen sind und auf Antworten warten, muss ich ihm diese Zeit geben. Auf dem Rückweg hat keiner von uns mehr geredet. Wir waren beide mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt, sodass die Stille vielleicht etwas unangenehm war, aber noch erträglich.
Mittlerweile sind drei Tage vergangen, seitdem wir bei Scarlett zu Hause waren und noch immer hat er sich nicht gemeldet. Ich weiß, dass ich Geduld haben muss, aber ich weiß auch, dass es ihm schlecht geht. Und das ich ihm nicht helfen kann, sorgt für ein unerträgliches Gefühl in mir. Immer wieder sehe ich auf mein Telefon in der Hoffnung, das er sich meldet, ein Lebenszeichen von sich gibt, doch es tut sich nichts.
Weil ich Ablenkung gebrauchen kann, habe ich mich dazu überreden lassen meiner Mutter beim Sortieren alter Kisten im Arbeitszimmer zu helfen. Es war weniger ein Arbeitszimmer, als vielmehr eine große Abstellkammer für alles wovor meine Mutter sich gedrückt hat es zu sortieren. Ich war noch nicht einmal hier drin, seit dem ich hier wohne. Vor allem, weil man es nur durch das Schlafzimmer betreten kann, aber auch weil ich bis vor ein paar Tagen nicht einmal wusste, dass es existiert.
Aufgrund dessen das Mama schwanger ist und ich nicht möchte das sie die schweren Kisten trägt, sitzt sie auf dem Boden, während ich ihr eine Kiste nach der anderen hinstelle, die wir dann gemeinsam sortieren.
„Das wird alles ganz toll werden", säuselt Mama plötzlich und schaut sich verträumt im Zimmer um. Ich unterdrücke ein Seufzen und nicke lediglich zustimmend. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dass es so ist, wie es ist. Ganz wohl ist mir bei allem noch immer nicht ganz. „Bist du noch immer sauer?" Mama streichelt über ihren kleinen Bauch, der jetzt schon deutlich zu sehen ist. Was eigentlich keinen Sinn ergibt, denn vor einer Woche war er genauso groß, nur das wir es dort noch nicht wussten. „Ja, ich weiß nur nicht auf wen", gestehe ich, während ich ein paar alte Bücher aus den Kisten räume und sie sortiere. Es stimmt, ich bin noch immer wütend. Doch ich weiß nicht auf was oder wen.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen." - „Als ich mit dir schwanger war, da waren dein Vater und ich auch auf uns alleine gestellt." Sie sagt es, als glaubt, sie wirklich, dass mir diese Information helfen würde.
„Aber diesmal ist das anders", erkläre ich, eine Kiste in den Händen. „Papa geht es schlecht. Keiner von euch beiden kann arbeiten gehen. Und ich kann nicht für ewig hier bleiben." Ich verschweige, dass ich schon länger darüber nachdenke auszuziehen. So wirklich tue ich das erst seit ihrem Geständnis, wenn man es so nennen kann. Mama sieht nachdenklich auf eine der Kisten. „Du bist schon im vierten Monat", fahre ich fort, weil sie nichts mehr sagt. „Und ehrlich gesagt habe ich Angst davor. Ich schaff' das nicht alleine."
Ich weiß nicht, ob es falsch ist meiner Mutter all das anzuvertrauen, wo sie selbst doch so viele Probleme hat, aber wenn ich nicht mit ihr reden kann, mit wem dann? Tränen brennen in meinen Augen, von denen ich hoffe, dass sie nicht über meine Wangen laufen.
„Ach Schätzchen", Mama legt einen Arm um mich und ihr Kinn auf meiner Schulter ab. „Du bist nicht alleine. Nie. Wir schaffen das alle zusammen - als Familie."
Es ist der erste Moment seit Ewigkeiten, in dem ich mich meiner Mutter wieder nah fühle und in dem ich ihren Worten ein bisschen glauben abgewinnen kann.
Montags sitze ich pünktlich um acht Uhr an meinem Computer. Es hat sich herausgestellt, dass Vio's Gerücht, welches sie über mich verbreitet hat, sich gut herumspricht. Mittlerweile werde ich nicht mehr nur komische angeschaut, sondern auch darauf angesprochen. Zuletzt von Allan, der fragte, ob ich es auch für Geld machen würde. Daraufhin hat er in heißem Tee gebadet und sich kleinlaut verpisst. Ich bin mir sicher, dass mich das alles runterziehen würde, hätte ich nicht gerade schon genug zu tun. Bei Noah brannte auch heute wieder kein Licht, als ich ankam und wie die letzten Tage auch, habe ich die Vermutung das er sich wieder nicht melden wird. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß wie es ihm geht und was er macht.
Mein Blick wandert aus dem großen Fenster rechts von meinem Schreibtisch. Es regnet wieder mal und weil es mir so vorkommt, als würde über dieser Stadt nie die Sonne scheinen, vermisse ich sie mehr als jemals zuvor.
In der Mittagspause sehe ich auf mein Handy, nur um enttäuscht feststellen zu müssen das er sich noch immer nicht gemeldet hat.
Ich hadere mit mir selbst, ob ich mir wirklich die Blöße geben soll, in die Cafeteria zu gehen, doch weil ich nichts zu essen eingepackt habe und mein Magen bereits laut knurrt, bleibt mir nichts anderes übrig. Suchend wandern meine Augen durch die überfüllte Cafeteria, doch Vio finde ich auch heute nicht. Sie macht sich seit ihrem Schuss gegen mich mindestens genauso rar wie Noah. Weil ich keine Lust auf dumme Sprüche habe, setze ich mich abseits von allen anderen in eine kleine Nische. Gedankenverloren esse ich meinen Salat, als plötzlich ein bekanntes Gesicht vor mir auftaucht.
Cassedy erlaubt sich tatsächlich noch die Frechheit, sich mir gegenüberzusetzen. Sie sagt erst nicht, sondern isst einfach nur.
„Es tut mir leid", murmelt sie leise. Dank des lauten Geräuschpegels ist es mir fast nicht möglich sie zu verstehen.
„Schon okay. Es denken ja jetzt nur alle, dass ich eine Schlampe bin", gebe ich kühl zurück und konzentriere mich auf mein Essen, das plötzlich nicht mehr schmeckt.
„Ich habe mit bekommen was Allan getan hat", Cassedy schaut zu mir hoch, weicht meinem Blick allerdings aus. Weil ich nicht vorhabe das Gespräch mit ihr weiter zu vertiefen stehe ich auf und lasse sie zusammen mit meinen halb vollen Teller alleine.
Müde biege ich in unsere Straße ein. Es ist bereits dunkel, als ich nachhause komme, aber vor allem ist es schon spät. Ich weiß nicht, wo ich mich zur Zeit lieber aufhalte. In der Arbeit, wo ich für alle ein Flittchen bin oder zu Hause, wo ich die nervige Zicke bin.
Ich habe zwölf Stunden auf der Arbeit verbracht, anstatt einfach nachhause zu gehen und mich in mein Bett zu legen, das sagt wohl einiges aus.
Eine Weile starre ich noch in die Dunkelheit und bleibe in meinem Auto sitzen bevor ich aussteige und mich auf den Weg zur Haustür mache.
Vor der Tür sehe ich jemanden stehen und für einen Moment habe ich die Befürchtung das es Bailey ist, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was er hier zu suchen hat. Doch als ich dann davor stehe erkenne ich klar und deutlich, dass es Noah ist, der dort wartet. Sofort fällt mir eine riesige Last von den Schultern. „Was machst du hier?", frage ich erleichtert aber auch verwirrt. Noah sieht fertig aus. Seine Haare liegen unordentlich auf dem Kopf, seine Augen schmücken tiefe, blaue Augenringe.
„Ich will wegfahren", ist das Einzige, was er sagt. „Und weiter?", frage ich, weil ich mir nicht sicher bin was er damit sagen möchte.
„Mit dir", betont er nachdrücklich, als sei das nicht schon selbstverständlich.
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Blue Jeans
Teen FictionIvory und Noah waren beste Freunde. Nichts konnte die beiden trennen, zumindest dachte Ivory das, bis Noah eines Tages aus heiterem Himmel den Kontakt zu ihr abbricht. Jahrelang herrscht Funkstille zwischen den ehemals besten Freunden. Erst als Ivor...