Kapitel Sechsunddreißig ~ (K)eine Lösung

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Flüchtig schaue ich durch die weißen Flure des Krankenhauses auf der Suche nach meiner Mutter und Josy. Es dauert eine Weile, bis ich sie gefunden habe und als ich vor ihnen stehe, habe ich das Gefühl meine Mutter nicht mehr wieder zu erkennen. Sie sieht müde aus, dunkle Schatten zieren ihre Augen und die Sorge wirkt wie in ihr Gesicht gemeißelt.

„Hey", ich ziehe sie in eine feste Umarmung und sehe zu Josy, die gelangweilt auf ihrem Telefon tippt. Sie beachtet mich nicht, ist zu vertieft in, was auch immer sie dort gerade tut. Mama bringt keine Begrüßung zustande, nicht mal gegenüber Noah der darauf bestanden hat, mitzukommen.

„Wie geht es ihm?" Ich sehe zu der Zimmertür und dem Schild, auf dem der Name meines Vaters zusammen mit einem anderen steht. Mama lässt sich wieder in den Stuhl sinken und nimmt ein Taschentuch aus der Jackentasche um sich die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. „Es wird schlimmer, Ivory."

Ihre Hände zittern während sie versucht das Tuch wieder zurück in die Tasche zu schieben. „Er wird nicht mehr in der Lage sein zu laufen und .. und wenn", Mamas Stimme bricht unter der Last, die sie zu tragen hat. Die pure Verzweiflung, die aus ihr heraus spricht, reißt mir das Herz in zwei. Weil ich nicht weiß was ich anderes tun soll, nehme ich sie wieder in den Arm und diesmal kann sie nicht mehr an sich halten. „Sie wollen ihn nicht weiter behandeln, wenn wir die offenen Rechnungen nicht begleichen", schluchzt sie in meine Schulter. Fassungslos drücke ich sie von mir weg und sehe ihr in die Augen.

„Das können die nicht machen!", entfährt es mir lautstark, woraufhin eine Schwester mich zischend zur Ruhe weist. Josy hat mittlerweile ihr Handy zur Seite gelegt und streicht Mama unterstützend über den Rücken. Ich überlege, wie viel ich auf meinem Konto habe und selbst wenn ich es wollen würde, mein Gehalt könnte niemals diese immensen Kosten decken. Verzweiflung breitet sich in meiner Brust aus und verteilt sich wie klebriges Gift in jeder Faser meines Körpers.

„Hey!", ich springe auf, als ich einen Mann im Kittel sehe und gehe auf ihn zu. Er scheint eigentlich viel zu jung um Arzt zu sein. „Wie können Sie es sich wagen", beginne ich zu schimpfen, als ich schon Noahs vertraute Hand auf meiner Schulter bemerke. Unbeachtet schlage ich sie weg und sehe zu dem Arzt, der ausschaut, als wäre er überfordert und wüsste nicht, wovon ich rede. „Entschuldigung?", der Mann im Kittel blickt mich verständnislos an.

„Wie können Sie die Behandlung meines Vaters verweigern?", Tränen der Wut sammeln sich in meinen Augen. „Sie müssen ihm helfen." Ich rede immer weiter, kann nicht aufhören, so fassungslos bin ich. „Ivory", Noah rüttelt an meiner Schulter und zieht mich ein paar Schritte nach hinten. Der Arzt schaut verwirrt zwischen uns hin und her, ehe er mit einer Akte im nächsten Gang verschwindet.

„Sie können ihn doch nicht einfach da liegen lassen! Das geht nicht, das dürfen sie nicht." Ich schüttle mit dem Kopf, als wollte ich mir selbst noch mehr bewusst machen, dass sie das nicht dürfen. „Ich weiß, was du meinst", bestätigt Noah und nimmt mich in den Arm. Ich lege meinen Kopf an seiner Brust ab und beginne zu schluchzen. „Aber darum sollt ihr euch keine Gedanken machen", fährt er fort. Ich lache traurig auf und sehe auf meine Hand, die auf seiner Schulter ruht. „Ich werde dafür sorgen, dass sie ihm weiter behandeln." Im ersten Moment realisiere ich nicht, was Noah mir damit sagen will, doch als die Worte zu mir durch sacken, drücke ich mich von ihm weg und schüttle bestimmt den Kopf. „Das kannst du vergessen", protestiere ich und verschränke die Arme auf der Brust. „Ich mache das gerne", bestätigt er mit Nachdruck, doch ich will das nicht. Noah soll nicht für uns aufkommen, er hat schon viel zu viel für mich getan. Kopfschüttelnd wische ich mir die Tränen aus den Augen.

„Es gibt bestimmt eine andere Lösung. Ein Darlehn, ein Kredit, irgendetwas." Es überfordert mich, nicht zu wissen wie es jetzt weiter geht. Ich schaue zu Mama und Josy, die sich gegenseitig in den Arm nehmen und weiß, dass ich etwas tun muss, weil sie es nicht können.

Wir waren den ganzen Tag im Krankenhaus, haben Zeit mit Papa verbracht, der nichts davon weiß, dass das Krankenhaus die Behandlung einstellen will, sollten wir die Rechnungen nicht bezahlen können. Dr. Phillis meinte, das mindestens sechzig Prozent auf einmal bezahlt werden müssen, damit sie ihn weiter behandeln. Und sollte das nicht in den nächsten vier Tagen passieren, dann setzen sie ihn wortwörtlich auf die Straße.

Noah war so nett uns nachhause zu fahren und obwohl er gefragt hat, ob er noch mit nach oben kommen soll, habe ich ihn nachhause geschickt. Natürlich hätte ich gerne ja gesagt, aber irgendwann braucht auch er seine Ruhe. Mama und Josy haben sich bereits kurze Zeit später ins Bett gelegt, während ich jetzt an einem Tisch eines Fastfood-Restaurants sitze, um das freie WLAN auszunutzen.

Das Internet schwimmt gerade zu in Kreditangeboten, doch keins davon wirkt auch nur annähernd seriös. Genervt ziehe ich meine Kopfhörer aus den Ohren und greife nach meinen mittlerweile schon fast kalten Pommes, die mir der übermüdete und genervte Mitarbeiter an den Tisch gebracht hat. Es muss eine Lösung geben, eine Lösung in der nicht Noah das alles bezahlt. Sein Angebot war großzügig, aber zu viel des Guten. Auch wenn wir uns gut verstehen und nah stehen, das könnte ich nicht annehmen. Nicht einmal für Papa.

Ich trinke einen Schluck von meiner Cola, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippt. Verwirrt schaue ich nach oben und sehe in klare, blaue Augen. „Felix", stelle ich stirnrunzelnd fest. Der Rotschopf grinst mich freudestrahlend an und setzt sich ungefragt auf den Platz neben mich.

„Was machst du so spät noch draußen?", fragt er, greift nach meinem Pommes und der noch verschlossenen Mayonnaise Packung. Meine Augen verfolgen jede seiner Bewegungen genauestens. „Das Internet nutzen", ich deute auf meinen Laptop und begreife erst danach, dass noch immer die Seite mit den Kreditangeboten offen ist. Schnell will ich den Tab schließen, doch der rothaarige kommt mir zuvor.

„Du brauchst Geld", stellt er belustigt fest. Dabei weiß ich nicht, ob er sich über mich oder die Tatsache, dass ich so schlecht im Dinge verheimlichen bin, lustig macht. „Nein", kopfschüttelnd klappe ich meinen Laptop zu. Felix und ich kennen uns zu wenig, als dass das es ihn irgendetwas angehen würde.

„Weißt du", ich packe meinen Laptop sowie meine Kopfhörer in meine Tasche und ziehe den Verschluss zu. „Ich wollte gerade gehen." Mit diesen Worten stehe ich auch schon auf, doch Felix‚ Blick durchbohrt mich noch immer unangenehm. Warum musste er auch gerade jetzt hier auftauchen.

Warum musste es überhaupt er sein. Eine Atombombe wäre mir lieber gewesen.

„Ivory", ich höre, wie Felix mir nach läuft und letztendlich neben mir zum Stehen kommt. „Vielleicht ist das ja was für dich", er hält mir eine der Papierservietten entgegen, auf der eine Nummer gekritzelt steht. Verwirrt sehe ich ihn an. „Wenn du dort anrufst, dann sag das du die Nummer von mir hast", redet er weiter. „Gibt ne gute Provision." Mit einem Zwinkern kehrt er zurück zu seinem Platz und lässt mich an der Tür stehen. Einen Moment lang starre ich die Serviette an und sehe dann wieder in seine Richtung. Letztendlich lasse ich sie in meiner Tasche verschwinden und gehe zu meinem Auto.

Ich fahre nicht nach Hause, wie ich es eigentlich tun sollte, sondern in die entgegen gesetzte Richtung.

„Ist es verrückt, dass ich dich schon wieder nerve?", frage ich, die Hände in der Hosentasche. „Kaum", antwortet Noah mit einem Lächeln und öffnet die Tür ganz. Offensichtlich war er kurz davor ins Bett zu gehen, denn er trägt nur ein Shirt und seine Unterwäsche. Ich ziehe meine Schuhe und Jacke aus und folge Noah in die Küche.

„Muss ich noch fragen, was dich herführt?" Er füllt ein Glas mit Wasser und gibt es mir. Kopfschüttelnd sehe ich auf das Glas. „Aber du könntest etwas anderes fragen", mit Schwung hebt er mich hoch und setzt mich auf seine Kücheninsel. Ich kann nicht anders, als frech zu grinsen. „Was denn?", will er wissen und beugt sich neugierig zu mir vor. „Ob ich vielleicht hier schlafen möchte", murmle ich, noch immer mit einem Lächeln im Gesicht und male kleine Kreise auf seinen Oberarm. „Das muss ich nicht", stellt er fest und lässt damit kurz Enttäuschung in mir aufkeimen. „Weil du weißt, dass ich nichts anderes will", flüstert Noah und drückt seine Lippen auf meine Wange. Niemals hätte ich das gedacht, aber Noah ist gerade das Einzige, das mich vor dem Ertrinken rettet.

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