Kapitel Zweiundvierzig ~ Sport macht den Kopf frei

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Wisst ihr was lustig ist? Eigentlich sollte dieses Buch nicht mehr wie 50 Kapitel haben. Ihr bekommt aber deutlich mehr hahahaha.

„Hoch, hoch, hoch. Hoch!"

„Hör auf mich anzuschreien", keife ich völlig aus der Puste zurück und drücke mich ein letztes Mal an der eiskalten Metallstange nach oben. Meine Arme fühlen sich wie Wackelpudding an, obwohl der Sinn hinter dieser ganzen Tortur eigentlich das Gegenteil war.

„Wie viel wiegst du? Fünfzig Kilo? Stell dich doch nicht so an."

Kyle sieht mir belustigt dabei zu, wie ich meine Arme ausschüttle und meine Hände aneinander reibe. Es ist das erste Mal eisig kalt draußen und ausgerechnet heute muss er mich durch den Park scheuchen.

'Sport macht deinen Kopf frei', hat er gesagt. Er hat gelogen.

„Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Gewicht", meine Stimme klingt angestrengt und mehr wie ein Fiepsen als ernst.

Ein Jogger läuft an uns vorbei und beobachtet uns eine ganze Weile ehe er seinen Kopf wieder in Richtung des Feldweges bewegt. Obwohl die Sitzbank kalt ist, setze ich mich darauf und greife nach meiner Wasserflasche.

„Das war keine Frage, sondern eine Feststellung."

Verstehend nicke ich, den Blick aufs Nichts gerichtet. Vielleicht hat Kyle gar nicht mal so unrecht. Mein Kopf ist wie leergefegt. Das einzige, an das ich denken kann sind die Schmerzen in meinem ganzen Körper. Das meine Muskeln eher Pudding gleichen ist selbst für mich nicht wirklich überraschend, es ist trotzdem traurig zu sehen, was aus meiner Ausdauer geworden ist. Mein Highschool ich war in Topform, hat sogar in der Handballmannschaft mitgespielt. Davon kann ich jetzt nur träumen.

„Und wie fühlst du dich?", fragt Kyle und grätscht somit mitten in meine Gedanken. Planlos schaue ich ihm in die braunen Augen. Er kaut wie immer an seinem Lippenpiercing rum. Eine Marotte, die er wahrscheinlich nie mehr loswird. „Wie Wackelpudding", gebe ich zu.

Kyle nickt zufrieden und lacht. „Gut so."

Das heiße Wasser der Dusche entspannt meine verzerrten Muskeln deutlich. Insgeheim plane ich, diese Dusche nie wieder zu verlassen, sondern für immer unter dem heißen Wasser zu bleiben und wie eine Rosine zu schrumpeln. Allerdings ist das nicht möglich, also genieße ich die letzten Sekunden in der dampfenden Dusche, bevor ich das Wasser ausstelle und nach dem Handtuch greife.

Das ganze Badezimmer ist in nebeligen Dampf getaucht, die Spiegel sind beschlagen und die Bodenfließen so feucht machen, dass ich darauf ausrutschen könnte. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals so heiß geduscht zu haben, allerdings hat mir auch noch keine Dusche so gutgetan.

„Was hast du heute noch vor?", fragt Kyle als ich in die Küche komme. Er sitzt am Tisch mit einer Kaffeetasse in der einen und seinem Handy in der anderen Hand. „Ich muss noch bei Papa vorbei, ihm sein Essen bringen", mein Blick wandert zur Uhr. Es ist gerade mal zwölf. „Und dann noch das Kinderbett abholen." Mama hat es in einem Laden gekauft, der gebrauchte Kindermöbel wieder aufarbeitet und dann weiter verkauft. Nur hat sie nicht bedacht, dass ihr Kofferraum zu klein dafür ist.

„Hört sich an als bräuchtest du Hilfe", ein Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen. „Hört sich eher so an, als hättest du heute nichts zu tun", gebe ich zurück. Kyle verzieht die Lippen zu einem Schmollen und sieht mich abwertend an. Augenrollend stelle ich meine Tasse ab.

„Es wäre sehr schön, wenn du mir helfen könntest."

Das war es, was er hören wollte, denn er grinst zufrieden und leert seine Tasse.

Nachdem ich mich angezogen und meine Haare geföhnt habe, fahren wir zu Papa. Meine regelmäßigen Besuche scheinen ihn wirklich zu freuen und mal ein anderes Gesicht außer das meine zu sehen, freut ihn offenbar auch. Die meiste Zeit unterhält er sich mit Kyle im Wintergarten. Die beiden haben sich allerdings nicht von Anfang an so gut verstanden. Ich kann mich noch daran erinnern, wie skeptisch Papa ihm gegenüber war. Dem Jungen mit den Piercings und Tattoos der seine Tochter immer öfter besucht oder abgeholt hat. Doch auch Papa hat schnell gemerkt, dass mehr hinter Kyle steckt und das er im Grunde kein schlechter Kerl ist.

Ich hole mir gerade einen Tee an einem der Automaten, als plötzlich Dr. Phillis neben mir steht. Er hat sich dafür entschuldigt, dass er so persönlich geworden ist und seit dem ist alles wieder in Ordnung.

In der letzten Woche haben wir uns viel unterhalten. Er hat seine Assistenzarztausbildung vor zwei Jahren beendet und ist seit etwas über einem halben Jahr erst in diesem Krankenhaus angestellt. „Und täglich grüßt das Murmeltier", er lehnt sich gegen den Automaten, aus dem gerade heißes Wasser fließt. Lächelnd sehe ich von dem Plastikbecher auf. „Muss nervig werden, jeden Tag mein Gesicht hier zu sehen?"

Niklas schüttelt den Kopf. „Ganz und gar nicht", lächelt er.

„Du kannst auch einen Tee aus dem Schwesternzimmer haben", fügt er mit einem Blick auf den Becher hinzu. Kopfschüttelnd hole ich mein Wechselgeld aus dem Automaten. „Passt schon."

Von weitem kann ich sehen, dass Kyle und mein Vater auf dem Rückweg sind. Ich merke sofort wie Niklas wieder zu distanziert und professionell wechselt. Er lässt die Hände in seinem Arztkittel verschwinden und mustert Kyle.

Die beiden lachen über irgendetwas als sie vor uns zum Stehen kommen. „Kyle", stellt er sich dem Arzt neben mir vor. Niklas braucht einen Moment bis er realisiert und ihm die Hand reicht. „Dr. Phillis." Die Art wie er seinen Namen sagt, macht klar, dass ihm hier irgendetwas nicht passt. Kyle scheint das nicht aufzufallen, denn der grinst trotzdem weiter, wahrscheinlich noch über das, was er mit meinem Vater geredet hat.

„Es war schön, dass ihr mich besucht habt. Du solltest Kyle öfter mal mitbringen", scherzt Papa lachend und sieht zu ihm hoch. Lächelnd schaue ich zwischen den beiden hin und her. „Wenn er Zeit hat lässt sich das bestimmt einrichten."

„Ich bringe deinen Vater auf sein Zimmer. Die nächste Visite steht sowieso an", wirft Niklas ein. „Okay." ich verabschiede mich von Papa, verspreche ihm, das Kyle bald wieder mitkommt und sehe zu dem Doktor.

„Bis dann, Ivory", Niklas dreht den Rollstuhl meines Vaters und lächelt mir noch einmal zu bevor die beiden im nächsten Gang verschwinden. Mit meinem Tee in der Hand laufen wir Richtung Ausgang.

„Dieser Doktor steht auf dich", stellt Kyle fest als wir am Auto angekommen sind. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und sehe über das Dach des Autos hinweg zu ihm. „Ernsthaft, Ivy das musst du doch merken. Wie eifersüchtig er war", auf Kyles Gesicht liegt ein höhnisches Grinsen.

„Er ist der Arzt meines Vaters", stelle ich fest. „Und bald untersucht er nicht nur ihn", kichert er.

„Hör auf so einen Schmarn zu erzählen", Kyles Vermutung hört sich so absurd an, dass ich nur darüber lachen kann. Niklas und ich verstehen uns zwar gut, aber das schreibe ich der Tatsache zu, dass er versucht nett zu sein.

Kyle hilft mir noch, das Kinderbett von seinem Auto in die Wohnung zu tragen und verabschiedet sich dann von mir. Unglücklicherweise kam gerade in diesem Moment Josy nachhause. Sie hat ihn mit blicken angesehen, die töten könnten, während Kyle so locker wie immer geblieben ist. Zwar kann ich Josys Unmut Kyle gegenüber verstehen, doch wir sind Freunde und das waren wir schon davor. Mit diesem Umstand wird sie sich abfinden müssen, denn ich werde nicht auf so einen wertvollen Freund verzichten, weil sie ihn daten musste.

Es ist spät, als ich endlich im Bett liege. Der Tag war lang und konnte mich gut ablenken. Doch jetzt wo Ruhe einkehrt, fällt es mir schwer nicht an Noah zu denken. Die ganze Woche hat er sich nicht gemeldet. Dreimal war ich bei seiner Wohnung, wo mir niemand geöffnet hat. Zwar hätte ich noch bei seinen Eltern vorbeigehen können, doch es schien mir übertrieben.

In der Hoffnung, dass er sich vielleicht gemeldet hat, schalte ich mein Handy ein, doch werde ich enttäuscht. Keine Nachricht, kein Anruf, nichts. Stattdessen erwartet mich gähnende Leere auf meinem Display.

Verzweifelt schalte ich das Display wieder aus und lege das Handy zur Seite. Solange er das nicht will, werde ich ihn nicht erreichen. Jetzt muss er den ersten Schritt tun.

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