Kapitel Dreiundvierzig ~ Ein freier Mensch

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„Es sieht so weit alles super aus", Dr. Bellwood reicht Mama ein paar Tücher, um sich den Bauch sauberzumachen und schreibt etwas in den Mutterpass. Obwohl ich die ganze Zeit ruhig neben ihr saß, wirbeln in mir einige Gefühle umher. Normalerweise sollte ich diejenige sein, die Schwanger ist. Nicht das ich schon Kinder will, doch eigentlich ist das die Norm. Mama sollte Oma werden und nicht wieder Mutter. Nichtsdestotrotz scheint sie in dieser Rolle wieder aufzugehen. Sie ist aktiver geworden, freut sich unheimlich und blüht auf. Die Frau, die nur auf dem Sofa sitzt und nichts mit sich selbst anzufangen weiß verschwindet nach und nach. Vielleicht soll es ja so sein, vielleicht ist es, das was sie braucht.

„Kann man denn schon erkennen, was es wird?", frage ich neugierig, den Blick auf den Monitor, obwohl der schon lange ausgeschaltet ist. Dr. Bellwoods blonder Zopf schwingt mit, als sie sich in meine Richtung dreht. „Theoretisch ist das schon möglich, doch das Baby will sich offenbar noch nicht zeigen", erklärt sie lächelnd und wirft die Tücher in den Müll. Ich nicke verstehend und sehe zu Mama, die Stolz ihre Hand auf den Bauch legt.

An der Rezeption erhält Mama noch ein weiteres Foto des Ultraschalls und ihren Mutterpass zurück.

„Ich möchte noch deinen Vater besuchen" beschließt Mama, als wir in den Aufzug nach unten steigen. Fast überkommt mich schon so etwas wie ein verblüfftes Schnauben, doch ich kann mich gerade so noch zusammenreißen. Mama hat Papa kaum besucht, seit dem er im Krankenhaus liegt und nach außen hin hat sie auch nie wirklich gezeigt, das sie ihn vermisst. Weil ich nichts sagen möchte, das ich später bereuen könnte, nicke ich nur zustimmend. Der Aufzug gibt ein leises Geräusch von sich und öffnet die Türen.

Kurze Zeit später fahren wir auch schon auf den Parkplatz des Krankenhauses. Es liegt nicht weit entfernt von Mamas Frauenärztin und wahrscheinlich hätte man diese Strecke genauso gut auch laufen können, doch seit der Schwangerschaft hat sie starke Probleme mit Wassereinlagerungen, was ihr das Laufen erschwert.

Papa wirkt sichtlich überrascht als wir das Zimmer betreten. Er schaut sich gerade irgendeine Sendung auf dem alten Fernseher an, der an der Wand hängt, schaltet diesen aber sofort aus.

Mama nimmt ihn in den Arm und setzt sich auf den Stuhl, welcher neben dem Bett steht. Ich beobachte die beiden, wie sie sich unterhalten. Erst als Papa Hilfe braucht um in den Rollstuhl zu kommen, mache ich mich wieder bemerkbar.

Die beiden genießen die Zeit miteinander sichtlich, weshalb ich beschließe ihnen etwas Zeit für sich zu geben und nach draußen zu gehen. Vor dem Eingang hole ich mein Telefon aus der Jackentasche und schalte es ein, doch wieder muss ich feststellen, dass Noah sich noch immer nicht gemeldet hat. Seufzend setze ich mich auf einen der Metallsitze.

Eineinhalb Wochen geht er mir jetzt schon aus dem Weg und auch wenn ich verstehen kann, dass er Zeit für sich braucht, verzweifle ich so langsam. Es fällt mir schwer meine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, vor allem, da ich ohne Job nur zu Hause sitze und nichts tue.

Ich drücke auf anrufen und halte das Handy an mein Ohr. Wie jedes Mal gibt es ein Freizeichen, was bedeutet sein Telefon ist angeschaltet, doch wie die anderen Male zuvor auch, springt irgendwann die Mailbox an. Ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, lege ich auf und stecke das Handy wieder weg. Die kalte Luft bildet Rauchwolken beim Ausatmen, welche ich beobachte.

„Ivory", ertönt plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken fahre ich rum, nur um zu sehen, dass es Niklas ist, der eine Zigarette in der Hand hält.

„Hi", begrüße ich ihn knapp. Er scheint meine gedrückte Stimmung zu bemerken und mustert mich. „Ist alles okay?" Er zündet die Zigarette an und bläst den Rauch aus. Ich verfolge gedankenverloren die dünnen Fäden in der Luft.

„Alles bestens", antworte ich lächelnd. Niklas scheint mir das nicht abzukaufen, belässt es aber dabei und setzt sich neben mich. Dass er keine Arbeitskleidung trägt, lässt mich darauf schließen, dass er jetzt erst beginnt oder schon geht.

Es ist das erste Mal, dass ich ihn ohne die weiße Kleidung und den Kittel sehe. Das lässt ihn so normal wirken, dass ich fast die Tatsache vergesse, dass er der Arzt meines Vaters ist.

„Ich muss meine Schicht bald anfangen", bemerkt er mit einem Blick auf die Armbanduhr. „Aber wenn du willst, können wir vorher noch zusammen in die Cafeteria gehen?" Plötzlich wirkt der sonst so souveräne Arzt schüchtern. Er sieht auf seine Zigarette und dann Richtung Boden.

„Klar." Mir ist bewusst, dass Mama noch eine Weile mit Papa alleine sein möchte und alles ist besser als alleine in der Kälte zu sitzen. Ein Lächeln bildet sich auf Niklas' Lippen.

„Super."

„Es ist nicht das beste Essen", er reicht mir eine Schale mit Linsensuppe und einen Löffel. Ich bedanke mich lächelnd. „Aber man kann es ertragen. Oder ich bin es einfach schon gewohnt", fügt er lachend hinzu.

„Es ist in Ordnung", bestätige ich, nachdem ich den ersten Löffel gegessen habe.

Niklas und ich essen gemeinsam und unterhalten uns währenddessen über alles Mögliche. Dabei wird es nicht langweilig, es entstehen auch keine peinlichen Pausen. Es kommt mir vor, als würde das alles ganz natürlich passieren. Dabei bin ich froh, dass er das Thema nicht auf Papa lenkt, sondern sich einfach mit mir über belanglose Dinge unterhält. Niklas bringt mich durch seine Witze mehr als nur einmal zum Lachen, etwas das sich anfühlt, als hätte ich es schon lange nicht mehr wirklich getan.

Nachdem wir uns beide den Bauch mehr oder weniger voll geschlagen und das Geschirr zur Abgabe gebracht haben, begleite ich ihn noch bis zur Umkleide.

„Das war sehr schön, Ivory", Niklas sieht mir lächelnd in die Augen. „Finde ich auch", bestätige ich seine Aussage. Tatsächlich war es wirklich schön.

„Ich würde dich gerne einmal zum Essen einladen. Zu besserem Essen", betont er lachend.

Unsicher was ich darauf antworten soll, beiße ich mir auf die Lippe. „Du musst dich natürlich nicht gezwungen fühlen!", fügt er schnell hinzu. Jetzt wirkt er wieder unsicher, fast schon hilflos.

„Gerne", antworte ich deshalb schnell. Sofort erhellt sich Niklas' Gesicht.

„Schön, das freut mich", gibt er freudig von sich.

Kurze Zeit, nachdem ich mich von Niklas verabschiedet habe, habe ich Mama geholt und wir sind zusammen nachhause gefahren. Sie hat die ganze Zeit davon geredet, wie schön es war etwas Zeit mit Papa zu verbringen, doch ich konnte kaum auf ihr Gerede eingehen, denn ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Irgendetwas in mir findet es nicht richtig, dass ich mit Niklas essen gehe. Dabei ist es tatsächlich nur ein Essen. Er ist nett und wir verstehen und gut, doch mehr ist da nicht und ich bin mir ziemlich sicher, er sieht das genauso.

Außerdem sind Noah und ich kein Paar, ich habe mich zu nichts verpflichtet. Er war derjenige, der mich hat stehen lassen nur, weil ich nicht so weit war, diese Worte auszusprechen, die er so unbedingt hören wollte.

Ich bin ein freier Mensch.

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