Kapitel Zweiunddreißig ~ Wie seine Schmerzen meine werden

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Wir stehen vor einem der vielen Hochhäuser. Es wirkt nicht nur heruntergekommen und vernachlässigt, es ist über all mit Schmutz und nassen Flecken versehen, die eindeutig nicht vom Regen kommen. Angestrengt versuche ich mir den Ekel nicht anmerken zu lassen, während Noah daraus keinen großen Hehl macht. Angeekelt tritt er die Eingangstür auf, darauf bedacht sie nicht mit den Händen zu berühren und läuft den schmalen, langen Flur entlang. Auch von innen sieht es nicht viel schöner aus. Die Wände sind beschmiert, der Boden schon seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt. Wir steigen in einen silbernen Aufzug oder viel mehr einen schwarz bemalten. Von dem Silber ist kaum noch etwas zu sehen, die Tür wirkt, als hätte jemand versucht sie einzutreten. Es passiert automatisch, dass ich mich hinter Noah verstecke, als ein paar Jungs einsteigen, dabei laut lachen und irgendetwas von einer Schlägerei erzählen. Einer der beiden blutet leicht aus der Nase und hat ein geschwollenes Auge, was ihn jedoch nicht zu stören scheint.

Dieser Aufzug macht kein Geräusch, als er im fünften Stock ankommt. Ruckelnd kommt er zum Stehen und öffnet die Türen, von denen ich dachte, sie würden sich nicht mehr öffnen. Unwohl quetsche ich mich an den Jugendlichen vorbei, direkt hinter Noah der meine Hand nimmt und sie leicht drückt. Unsicher sehe ich auf unsere ineinander verschränkten Hände. Es fühlt sich gut an, doch das Gefühl lässt schnell nach als Noah seine Hand wieder von meiner entfernt. Innerliche bin ich traurig darüber, äußerlich tue ich allerdings so, als sei nichts gewesen. Wir befinden uns wieder in einem langen Flur. Der Geruch von Urin gemischt mit Alkohol brennt sich in meine Nase, sorgt dafür das mir schlecht wird.

Wir bleiben vor einer der braunen Türen stehen. Sie ist am Schloss so verbogen, als hätte jemand versucht sie aufzubrechen. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch wird nur noch schlimmer. Noah klopft laut dagegen, so laut, dass ich mich fast schon erschrecke. Mein Puls rast schnell aus Angst vor dem, was hinter dieser Tür auf uns warten könnte. Als sich nichts tut, sehe ich zu Noah, der genervt ausatmet. „Mach die Tür auf Scar", ruft er nun laut. Seine Augen huschen kurz zu mir, dann wieder zu der Tür hinter der Schritte zu hören sind. Es dauert nicht lange und die Tür wird einen Spalt geöffnet. Gerade genug damit Scarlett ihren Kopf hindurchstecken kann. Sofort kommt mir der Geruch von Alkohol entgegen. „Was willst du?", ein paar braune Augen mustern Noah mit purem Hass. Sie ist so auf ihn fixiert, dass sie mich nicht zu bemerken scheint.

„Ich will reden", antwortet er mit sanfter Stimme. Scarlett scheint einen Moment lang zu überlegen. Dann huschen ihre Augen zu mir, scheinen mich zu durchbohren. „Ist die alte vom Jugendamt?" Scarlett's Worte hören sich an als wollten sie Giftpfeile in meine Richtung schießen. Verdutzt sehe ich zu Noah, der den Kopf schüttelt. „Sie ist meine Freundin." Mehr sagt er nicht und mehr scheint er auch nicht sagen zu müssen, denn nach einem kurzen Moment des Zögerns öffnet sie die Tür.

Meine Freundin hallt es in meinem Kopf wieder, während ich hinter Noah in die Wohnung laufe. Dass er uns als Paar sieht, ist mir neu und irgendwie kann ich mich nicht damit abfinden.

Obwohl ich gerne noch länger darüber nachdenken möchte was Noah gesagt hat, bleibt mir dafür nicht viel Zeit. Denn kurze Zeit später stehen wir auch schon in der kleinen Einraumwohnung. Mir fallen sofort die dreckigen Klamotten auf dem Boden und das verschmutzte Geschirr auf dem Tisch aus. Das ist nichts, was sich an einem Tag ansammelt. Scarlett bietet uns nicht an, uns zu setzten. Auch sie bleibt stehen, verschränkt dabei abweisend die Arme vor der Brust. „Du bekommst sie nicht", wirft sie sofort in den Raum. Noah und Scarlett versuchen anscheinend nicht einmal nett miteinander zu reden. „Die Diskussion hatten wir schon, Scarlett. Sophie kommt zu mir." Noahs Körper ist gänzlich angespannt, seine Stimme lässt keine Widerrede zu. „Einen Dreck wirst du bekommen." Sie greift nach einer Schachtel Zigaretten und nimmt sich eine heraus. Kurz darauf verteilt sich der Rauch in der Wohnung. Mir fallen sofort die vergilbten Wände und Vorhänge auf.

„Wir wissen beide, dass sie es bei mir besser hat", stellt Noah fest. Mittlerweile möchte ich ihm nicht mehr widersprechen. Ich bin immer noch der Meinung, dass ein Kind beide Elternteile braucht, allerdings sollte sie nicht unter diesen Umständen aufwachsen. Nichts an dieser Wohnung wirkt einladen für ein Kind, erst recht nicht als würde eines hier leben. Scarlett lacht auf, die Zigarette noch immer in ihrem Mund. „Bei dir und deinem Flittchen?", jetzt zeigt sie mit dem Finger auf mich und sieht zu mir rüber. Überrascht und sprachlos reiße ich die Augen auf. „Ich bin doch kein Flittchen!", rufe ich empört aus. Ich bin für Scarlett vielleicht fremd, aber sie hat kein Recht mich so zu behandeln und erst recht nicht mir solche Worte an den Kopf zu werfen.

Noah hebt beschwichtigend die Hände vor mich. „Da soll mich der Teufel holen, bevor du sie bekommst", fügt sie noch hinzu. „Was willst du Aidan erzählen, wenn er nachhause kommt, Scar? Wir wissen beide das du auf ihn nicht verzichten kannst."

Ich kann absolut nicht verstehen, wie Noah so ruhig bleiben kann. Er wirkt, als wäre er sich seiner Sache sicher und auch wenn ich denke, dass er gute Chancen hat, wenn er seine Tochter zu sich holen will, finde, ich, dass er sich zu sicher gibt. „Er erfährt die Wahrheit", Scarlett drückt ihre Zigarette in einem der Aschenbecher aus und bläst den Rauch in die Luft. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie giftig die Luft in dieser Wohnung für ein Kind sein muss. „Das wagst du dich nicht", presst Noah hervor. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Scarlett grinst, weil sie weiß, dass sie Noahs Schwachstelle getroffen hat. Weil ich nicht weiß was ich sonst tun soll, lege ich meine Hand um Noahs. Zwar scheint es ihn für einen Moment zu entspannen, doch helfen tut es ihm nicht wirklich.

„Wir sollten gehen", murmle ich, denn mir ist bewusst, dass wir jetzt nichts tun können. „Hör auf sie", lacht Scarlett.

Meine Augen liegen auf Noah, der trotz allem noch irgendwo ein bisschen Ruhe in sich gefunden hat. Er dreht um, ohne ein weiteres Wort zu sagen und geht. Perplex bleibe ich mitten im Raum stehen. Ich hätte nicht gedacht, dass er wirklich auf mich hört und geht. Nachdem auch bei meinem Gehirn angelangt ist, das Noah gegangen ist, renne ich ihm hinterher. Dabei kann ich nur noch sehen, wie die Tür zum Treppenhaus zugeworfen wird. Schnellen Schrittes laufe ich ihm nach, habe aber Mühe ihn einzuholen.

„Warte", bringe ich gerade so heraus, während er immer noch in schnellem Tempo die Treppe nach unten geht. Anstatt auf mich zu hören, tut er genau das Gegenteil und wird noch schneller. Für einen Moment habe ich Angst das er die Stufen hinunterfällt, weil er so schnell ist.

Draußen schlägt mir der Regen mitten ins Gesicht. Überrumpelt streiche ich mir das Wasser von den Augen und gehe Noah hinterher, der fast schon beim Auto angekommen ist. Als auch ich endlich da bin, steht er noch immer vor seinem Wagen und starrt auf den kleinen Spielplatz. Pure Verzweiflung spiegelt sich in seinen Augen wider. Verzweiflung und Wut.

„Du ... wir schaffen das." Die Worte kleben erst in meinem Hals fest, doch als sie ausgesprochen sind fühlen sie sich richtig an.

Noah übergeht meine Aussage, als hätte er sie nicht gehört und steigt in den Wagen.

Ich bin mir nicht sicher, weil es in Strömen regnet und wir beide klitschnass sind, doch ich meine eine Träne zu sehen, die über seine Wange läuft. Und erst jetzt wird mir so richtig bewusst, wie viel er leidet und wie wenig ich dagegen tun kann. Denn plötzlich tun seine Schmerzen auch mir weh.

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