Kapitel Elf ~ Kein Scotch-Mädchen

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Mama und Papa sehen mich abwartend an, Josy hingegen schaut nur auf ihren Teller, scheint mich nicht zu beachten und isst von ihrem Fisch.

„Ich habe erstmal nur das Praktikum angenommen, den Rest werden wir noch sehen", teile ich ihnen mit. Mama wirkt zufrieden, zumindest vorerst und Papa lächelt mich sanft an.

„Es ist gut, dass du über deinen Schatten gesprungen bist, Iv."

Ich nicke ihm lächelnd zu. Ja, ich bin über meinen Schatten gesprungen, aber stolz bin ich trotzdem nicht. Noah wiederzusehen, war eines der komischsten Dinge in der gesamten Zeit, die ich wieder hier bin. Wir haben jahrelang kein Wort miteinander gewechselt und von jemanden, der für mich immer wie ein Bruder war, enttäuscht mich das doch schon sehr.

Und deshalb weiß ich auch nicht, ob ich es gutheißen soll, dass er so tut, als wäre nichts passiert. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass das für die Menschen zur Dauerlösung geworden ist. Wir tun alle so als wäre nie etwas passiert und haben uns lieb. Aber so funktioniert das nun mal nicht, wenn man verletzt wurde.

Noah war heute so charmant wie er es schon immer war, aber in der ein oder anderen Situation schwankt er sehr zwischen Charmant und Arschloch sein und dass ich einfach nicht aufhören kann, darüber nachzudenken macht es nur noch schlimmer.

Ich habe noch das ganze Wochenende um mich wieder zu fangen und zusammenzureißen. Denn mehr wie Arbeitskollegen sind wir nicht und werden es nicht sein. Mein Verlangen nach Enttäuschungen wurde in den letzten Wochen mehr als gestillt.

Obwohl meine Gedanken immer wieder abschweifen und ich manchmal das Gefühl habe, gar nicht mehr anwesend zu sein, bekomme ich doch mit, dass Josy neben mir verächtlich schnaubt.

Fragend sehe ich zu ihr rüber, auch Papa und Mama sehen sie an. Als sie hochsieht und unsere Blicke auf sich bemerkt zischt sie nur ein giftiges „Was?" in die Runde.

„Du solltest dich für deine Schwester freuen", entgegnet Papa mit milder Stimme.

„Klar, weil sie alles bekommt, was man sich nur erträumen kann und es trotzdem ablehnt?" Könnte sie es, würde sie mich glatt mit ihrem Blick töten. Natürlich geht das nicht, aber ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen und das ist mindestens genauso schlimm. Bin ich vielleicht einfach undankbar?

Ohne eine Antwort auf ihre, wahrscheinlich eher rhetorische Frage, abzuwarten, lässt sie ihr Besteck auf den Teller fallen und geht.

„Ich kann sie verstehen", gibt Mama schulterzuckend von sich und isst weiter von ihrem Teller. Mit ungläubigem Blick sehe ich sie an. Als wäre mein schlechtes Gewissen nicht schon schlimm genug, tritt sie mit Freudensprüngen darauf herum.

„Ist das dein Ernst?", frage ich barsch.

„Ivory", mahnt mich mein Vater, doch gerade ist mir das mehr als nur egal. Ich habe die Schnauze gestrichen voll.

„Warum denkt eigentlich jeder, er müsste über meine Entscheidungen urteilen? Es ist mein verdammtes Leben." Tränen brennen in meinen Augen, von denen ich hoffe, dass ich sie noch zurückhalten kann, doch ein paar schaffen es letztendlich doch über meine Wange.

Mama sagt nichts mehr, Papa sieht nur kopfschüttelnd nach unten und weil ich nichts mehr zu sagen habe stehe ich ebenfalls auf und gehe in den Flur, wo ich mir meine Schuhe anziehe und nach draußen verschwinde.

Das Auto lasse ich stehen, laufe stattdessen ziellos durch die Straßen und stelle fest, wie wenig ich mich hier eigentlich noch auskenne. Im Dunkeln erkenne ich manche Straßen überhaupt nicht mehr und andere nur vage.

War es wirklich die falsche Entscheidung das direkte Jobangebot auszuschlagen? Ich weiß es nicht und wenn überhaupt, werde ich es erst erfahren, wenn es sowieso schon zu spät ist.

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