Kapitel Neunundfünfzig ~ Jeder bekommt eine Socke

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Seit vier Wochen habe ich nichts mehr von Noah gehört. Nachdem ich meine Sachen abgeholt habe, hat er sich noch oft gemeldet und versucht mit mir zu reden, aber für mich ist das zwischen uns vorbei. Ich will mit seinen Machenschaften nichts zu tun haben, will nicht in noch mehr Dinge mit reingezogen werden. Kyle hat ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben das er sich von mir fern halten soll, zumindest hat er es so erzählt. Was genau er getan hat, weiß ich nicht. Angezeigt habe ich ihn nicht, vielleicht hätte ich es tun sollen, einfach, weil es nur gerecht gewesen wäre, doch letztendlich konnte ich es nicht.

Generell ist es in unserer Familie ruhiger geworden. Ob das an der Tatsache liegt, dass ich mich von Noah und Josy sich von Jerry getrennt hat, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht ist es die Weihnachtszeit die uns allen ein bisschen Frieden und Zusammenhalt gibt, denn trotz dessen das alles gut zu laufen scheint, gibt es noch immer Probleme.

Papa hatte vor zwei Wochen einen Herzinfarkt. Plötzlich und unvorhersehbar wie die Ärzte meinten. Seit dem kann er das Bett nicht mehr verlassen, selbst um zur Toilette zu kommen braucht er Hilfe. Ich sehe wie ihn das und die Tatsache, dass er niemals seine dritte Tochter kennenlernen wird, zermürben. Es geht ihm einfach viel zu schlecht. Seine Organe arbeiten nicht mehr richtig und obwohl ich es mir nicht eingestehen will, weiß ich, dass wir uns bald alle voneinander verabschieden müssen.

Die schönste Zeit im Jahr bekommt einen bitteren Beigeschmack, bei dem Gedanken daran.

„Ivory", eine Hand winkt vor meinem Gesicht. Stirnrunzelnd sehe ich zu meiner Arbeitskollegin Elly. „Hm?″, gedankenverloren schaue ich durch die verschneiten Fenster.

„Tisch drei möchte bezahlen", sie lächelt mir aufmunternd zu und drückt mir das Portmonee in die Hand. Nachdem ich Noah verlassen habe, habe ich gekündigt und mir einen neuen Job gesucht. Bis ich eine richtige Anstellung gefunden habe, arbeite ich in dem kleinen Café unserer Stadt. Ich verdiene nur einen Bruchteil von dem, was ich vorher dank Noah verdient habe, aber dieses Geld ist ehrlich verdient.

Ich reiche dem älteren Pärchen die Rechnung und gebe ihnen ihr Wechselgeld wieder. Es ist lustig, dass ich mir so eine Zukunft immer nur mit Noah vorgestellt habe und wir jetzt nicht mehr als ein bisschen Rauch sind.

Am liebsten würde ich sagen, dass ich ihn nicht vermisse, dass er mir egal ist und das mir nicht jeder Gedanke an ihn weh tut, aber das wäre gelogen. Ich habe ihn geliebt und dann vergisst man nicht so schnell. Aber wir haben keine Zukunft, denn Noah ist nicht, was ich brauche. Wir tun uns nicht gut und um das zu verstehen, mussten viele Tränen fließen.

„Nach Feierabend trinken wir beide noch einen zusammen", sagt Elly als ich hinter die Theke komme und die benutzen Tassen und Teller abstelle. Wir verstehen uns gut, sind fast schon sowas wie Freunde und gerade an solchen Tagen, an denen die Wunden weh tun bin, ich froh sie bei mir zu haben. Sie versteht mich und gibt mir ein gutes Gefühl ohne viel zu sagen.

„Nur wenn du bezahlst», feixe ich lachend woraufhin sie mir ihr Geschirrtuch ins Gesicht wirft. „Du bist dran, das weißt du."

Nickend gestehe ich mir meine Schuld ein, denn die letzten Male hat immer sie die Rechnungen in der Bar übernommen.

Nachdem auch die letzten Gäste das Café verlassen haben und das letzte Geschirr gewaschen ist, löse ich den Knoten meiner Schürze und hänge sie an den dafür vorgesehenen Haken.

„Weißt du schon was du deiner Familie schenkst?", fragt Elly als wir den Laden abschließen und sieht mich an. Kopfschüttelnd verneine ich. Es sind noch zehn Tage bis Weihnachten und um ehrlich zu sein bin ich ratlos.

„Jeder von Ihnen bekommt eine Socke und an ihrem Geburtstag bekommen sie dann die andere", kichere ich und setze meine Mütze auf. „Ich würde dich mit den Socken verhauen!", lacht Elly und schlägt mir auf die Schulter. Ihre braunen Haare hängen in großen locken über ihrer Schulter. Wenn wir uns so unterhalten vergesse ich fast, das sie fast vier Jahre jünger als ich ist. Sie arbeitet eigentlich nur neben dem Studium im Café.

„Was verschenkst du denn?", ich biege nach links ab und sehe sie fragend an. Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen. Ich liebe dieses Geräusch, auch wenn es fast unerträglich kalt ist.

„Naja meine Schwester bekommt eine Handtasche, mein Bruder... da hab ich noch nichts!", gesteht sie. „Und Mama und Papa bekommen einen Wellenessgutschein."

Ich muss zugeben, dass ich neidisch bin, denn auf diese Idee hätte selbst ich kommen können. Mama ist schon im fünften Monat und könnte ein bisschen Entspannung neben dem ganzen Stress bestimmt gut gebrauchen. Vielleicht findet sich ja trotzdem noch etwas Ähnliches.

Von weitem sehe ich das leuchtende Schild der Bar und kann es kaum erwarten, endlich wieder im Warmen zu sein.

In der Bar angekommen begrüße ich Leyla und wir setzen uns an einen Tisch weiter hinten. Es ist nicht mal sieben Uhr, deshalb ist es noch so gut wie leer. Die meisten Trinker tauchen hier erst gegen neun auf.

Ohne uns überhaupt zu fragen, bringt sie uns zwei Gläser Wein. Das einzige was sich dabei unterscheidet, ist die Farbe, denn im Gegensatz zu mir trinkt Elly am liebsten weißen.

Ich bedanke mich grinsend und trinke einen Schluck.

„Wie läuft es bei der Job suche?", will Elly wissen und setzt das Glas an ihre Lippen. Schulterzuckend seufze ich. „Ohne Arbeitszeugnis vom vorherigen Arbeitgeber ist das immer etwas schwer." Nach meiner Kündigung hat Noah mir keins zukommen lassen, auch nach mehrmaligem anrufen nicht. Ich weiß nicht, ob es Rache sein sollte oder ob es untergegangen ist, ein feiner Schachzug ist es so oder so nicht.

„Was ist da eigentlich passiert?", fragt die Brünette neugierig. „Du hast mir nie wirklich was davon erzählt."

„Ich habe dir doch gesagt es gab ein paar Differenzen zwischen meinem Chef und mir", antworte ich und zucke mit den Schultern.

Das was passiert ist, geht niemanden wirklich etwas an, deshalb erzähle ich auch nie etwas davon und weil ich versuche es einfach zu vergessen, auch wenn das schwer ist.

Mein Blick wandert zur Tür, die sich öffnet und ein Mann im Anzug kommt herein. Kurz schlägt mein Herz etwas schneller, doch als er die Kapuze abnimmt erkenne ich, das es nicht Noah ist.

Etwas wie Enttäuschung macht sich in mir breit. Dass es mir auch nach einem Monat noch so schwerfällt, ihn zu vergessen treibt mich innerlich in den Wahnsinn.

Hinter ihm betreten drei weiter Männer die Bar. Bei ihnen Joshua, den ich nur flüchtig kenne. Man ist sich ein oder zweimal in den Fluren begegnet, mehr aber auch nicht.

Als der letzte seine Kapuze abzieht und blonde Haare zum Vorschein kommen verschlucke ich mich an meinem Wein. Hustend wende ich den Blick ab, was mir Ellys volle Aufmerksamkeit einbringt.

„Was ist los?", sie sieht zu der Gruppe Männer und dem grünen paar Augen das mich überrascht mustert.

„Wir müssen gehen", ich lege zehn Dollar auf den Tisch, nehme meine Tasche und Jacke und renne fast schon an den anderen Tischen vorbei. Elly folgt mir nach ein paar Sekunden völlig verdutzt.

„Was war das denn, Iv?" Schwer atmend drehe ich mich um und laufe die Straße entlang. „Egal komm bitte einfach", mir im Gehen die Jacke anzuziehen ist nicht so einfach wie ich anfangs dachte.

„Ivory warte!"

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