Kapitel Fünfundvierzig ~ Das Tauschangebot

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„Was fällt dir eigentlich ein?!", keift meine kleine Schwester. Sie schließt die Tür zu ihrem Zimmer und rennt in die Küche. Ihre Haare stehen in alle Richtungen ab und das einzige, was sie davon abhält nackt vor mir zu stehen, ist das dünne Betttuch.

Immer noch geschockt starre ich sie an. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Arm aus und verteilt sich zusammen mit Ekel an meinem ganzen Körper.

„Er muss gehen", beschließe ich fest. Ich hätte viel von Josy erwartet, aber nicht das.

„Bestimmt nicht", schnaubt sie und zieht das Tuch enger um ihre Brust. Den Tränen nahe lehne ich mich an der Anrichte unserer Küche ab. „Josy, sofort. Ich will nicht, das du dich mit solchen Männern umgibst", der Ekel ist aus mir rauszuhören, doch das ist mir egal.

„Das geht dich einen Dreck an!"

Ich kann hören, wie sich die Tür von Josys Zimmer öffnet und versteife mich augenblicklich. Die Schritte hallen in mir nach, wie ein grausames Echo das mich verfolgt. Es dauert nicht lange, bis der Mann in Boxershorts es zu uns geschafft hat. Ich sehe an seinem Blick, dass er mich erkennt. Sofort schleicht sich ein Grinsen in sein Gesicht. Angewidert wende ich meinen Blick ab und versuche ruhig zu bleiben.

„Babe, komm ins Bett", er zieht Josy näher an sich heran und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.

Dabei liegen seine Augen auf mir, fressen sich in mein Gedächtnis.

„Gleich", antwortet sie sanft.

„Josy bitte", flehe ich, dabei lasse ich ihn nicht aus den Augen. Und zu sehen wie er sie anfasst, lässt alle Erinnerungen wieder in mir aufleben. Die Bar, die Nacht, der ekelhafte Geruch nach Alkohol und Zigaretten, seine Hände überall wo ich sie nicht wollte.

„Du hast sie doch nicht mehr alle", ist das einzige, was sie sagt.

„Ich trinke noch etwas", informiert Jerry sie. Josy nickt und verschwindet aus der Küche. Ich beobachte jede seiner Bewegungen, unfähig mich zu bewegen oder etwas zu tun.

„Lass sie in Ruhe." Jerry lacht auf, so wie an dem Abend. Sein Lachen trifft mich wie ein Déjà-vu, wie eine längst vergessene Erinnerung.

„Komm schon Babe, du wolltest doch nicht."

Ich muss das Glas entsorgen, muss alles reinigen, dass er anfasst, ich will brechen.

Jerry kommt zu mir gelaufen, langsam, sich dessen bewusst, dass ich unglaubliche Angst habe, dass ich mich nicht bewegen kann. Mein Puls rast, die Hitze steigt mir ins Gesicht.

„Es ist ganz einfach", haucht er. Es riecht nach Zigaretten. Zitternd sehe ich ihm in die Augen, erkenne den gleichen gierigen Blick wie damals.

„Ich lasse sie in Ruhe", beginnt er. Für den Bruchteil einer Sekunde, atmet etwas in mir erleichtert auf, doch Jerry ist niemand, der etwas bedingungslos tut.

„Wenn du mir dafür etwas Vergnügen bereitest", seine gierigen Augen sehen an mir rauf und runter, bevor sie in meinem Gesicht zum Stehen kommen. Angewidert kneife ich die Lippen zusammen.

Ohne eine Antwort zu erwarten, geht er einen Schritt zurück und verschwindet schließlich aus der Küche.

Zitternd lasse ich mich auf den Boden sinken.

Jerry ist mein wahr gewordener Albtraum.

Ich habe die ganze Nacht kein Auge zu gemacht. Stattdessen saß ich auf meinem Bett, die Beine an mich gezogen und habe versucht zu verarbeiten.

Jerry hat sich Josy genommen, um mich zu bekommen. Und das schlimmste ist, dass Josy nichts von all dem weiß. Dass sie es mir nicht einmal glauben würde, wenn ich erzählen würde, was er getan hat. Sie würde denken, dass ich ihr etwas Böses will, dass ich es ihr nicht gönne.

Die Sonne scheint durch mein Fenster, sagt mir, dass es bereits früh am Morgen ist. Ich will nicht aus meinem Zimmer gehen, will ihm nicht über den Weg laufen, denn ich weiß, dass er noch da ist.

Meine Augen sind immer wieder kurz davor zuzufallen. Doch sobald ich sie schließe, sehe ich Jerry vor mir, wie er mich gehen die kalte Hauswand drückt und mir wird schlecht.

„Ivory", ich höre die Stimme meiner Mutter vor der Tür und zucke vor Schreck zusammen. Langsam krabble ich von meinem Bett und öffne ihr die Tür. Sie hält mir einen Stapel Kleidung hin, den ich ihr abnehme. „Danke Mama."

„Ist alles okay? Du wirkst so übermüdet", stellt sie skeptisch fest. Ich schlucke bei dem Gedanken daran, wer gerade im Zimmer nebenan liegt und schüttle den Kopf. „Nur schlecht geschlafen."

Nickend sieht sie mich an, dabei fällt mir die Hand auf, die sie fast schon instinktiv auf ihren Bauch legt.

Die Rundung unter ihrem Topf zeichnet sich deutlich ab. Sie hat schon gut die Hälfte hinter sich, doch es kann immer noch etwas passieren.

„Alles gut. Ich merke nur manchmal wie er sich bewegt", bemerkt Mama, als sie meinen Blick sieht.

„Er?" Skeptisch und belustigt zugleich ziehe ich eine Augenbraue nach oben. Sie beginnt zu lächeln. „Natürlich. Zwei Mädchen reichen, jetzt wird es Zeit für einen Jungen!"

Sie so befreit lachen zu sehen, sorgt dafür das es mir besser geht. Was auch immer es wird, es macht Mama glücklich und nichts anderes zählt.

Weil Mama mich bittet ihr ein Glas Wasser zu holen, muss ich mein Zimmer verlassen. Sie hat sich auf das Sofa gelegt und sieht fern.

Ein Stein fällt mir vom Herzen, als ich bemerke, dass niemand in der Küche ist. Gedankenverloren hole ich ein Glas aus dem Schrank. Dabei fällt mein Blick auf das von Jerry, das er gestern hat stehen lassen. Ohne lange zu überlegen, lasse ich es in den Restmüll fallen.

Gerade als ich mich zum Wasserhahn drehen will, spüre ich eine Hand auf meinem Hintern. Erschrocken wende ich mich um und sehe ihn, wie er mich dreckig angegrinst und sich mir gegenüber stellt.

Das Glas, welches für Mama sein sollte, fällt mit einem lauten Knall auf die Küchenfließen, wo es in tausend Teile zerspringt. Mein Herz hämmert laut gegen meinen Brustkorb.

„Warum so nervös, Babe?" Mein Blick liegt auf den Scherben am Boden, die sich über fast die ganze Küche verteilen.

„Was ist los?", kommt es aus dem Wohnzimmer. Atemlos sehe ich zur Küchentür. „Ni... nichts. Mir ist nur ein Glas runtergefallen", lasse ich Mama wissen und gehe einen Schritt zurück. Jerry scheint es zu amüsieren, dass ich leide. Denn er beobachtet das ganze Schauspiel mit einem Grinsen auf den Lippen. Meine Müdigkeit scheint wie weggeblasen, stattdessen pumpt das Adrenalin durch meinen Körper.

Mit zittrigen Fingern greife ich nach dem kleinen Kehrbesen und versuche die Scherben so gut wie mir möglich aufzusammeln.

Dabei beobachtet er jeder meiner Bewegungen. Unwohl gehe ich an ihm vorbei zum Mülleimer, als er plötzlich meinem Arm packt und mich zu sich zieht. Der ekelhafte Geruch seines Parfums steigt mir in die Nase und verursacht ein brennen.

„Mein Angebot besteht auch weiterhin", seine Augen gleiten an mir herunter. „Überlege es dir. Ich bekomme immer, was ich will."

„Vergiss es", zische ich leise und ziehe mein Handgelenk von ihm weg.

„Wir wissen beide ich hätte dich haben können, wenn dein Beschützer nicht dagewesene wäre." Er leckt sich über die Lippen. „Irgendwann sind wir beide ganz alleine."

Purer Ekel überkommt mich bei dem Gedanken daran, ihm alleine zu begegnen.

Jerry kennt keine Grenzen, er würde nicht halt machen und diese Gewissheit lässt Übelkeit in mir aufkommen.


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