Kapitel Neunzehn ~ Komische Gefühle

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„Die Aussicht ist wirklich toll", bemerke ich, als Noah mir ein Glas Wasser reicht. Er stellt sich neben mich, betrachtet mit mir die Skyline. Seine Wohnung finde ich nach wie vor prollig, was ich allerdings für mich behalte, doch die Aussicht ist es wert. Die Lichter, die Autos auf den Straßen und die vereinzelten Menschen, die sich um diese Zeit noch auf draußen befinden, lassen das Bild von hier oben aus fast schon harmonisch wirken.

„Das will ich hoffen, kostet immerhin genug Geld", grinsend sieht er zu mir. Ich schüttle lachend den Kopf. „Das ist also deine Strategie?", fragend sehe ich ihn an. „Viel Geld für eine Wohnung mit guter Aussicht ausgeben, um so die Frauen zu beeindrucken?" Ich setze das Glas an. Noah war so nett mir eine Aspirin zu geben. 'Nur für den Fall' hat er gesagt.

Ein Kopfschütteln seinerseits, dann ein Seufzen. „Ich bin nicht der Typ Mann, der Frauen beeindrucken möchte. Zumindest nicht alle, nur die besonderen." Verstehend nicke ich.

„Kein Frauenheld mehr?"

„Nein, ich wurde quasi geheilt."

Überrascht ziehe ich die Augenbrauen nach oben und lache. Das, was ich von Noahs letzten Schuljahren mitbekommen habe, entspricht nicht dem, was er jetzt von sich gibt. Partys bis zum Abwinken und mindestens genauso viele naive Mädchen. Das ist es, was ich kenne und irgendwie auch jetzt nicht anders erwartet hätte. „Wer war denn die 'heilende'?"

„Sie klingen ganz schön sarkastisch, Ms. Scales", er zieht eine Augenbraue nach oben. Ein Lachen meinerseits und seine Hand, die mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht.

Verwirrt und unbeholfen räuspere ich mich. „Ich glaube, wir sollten schlafen", murmelnd drehe ich mich von Noah weg, der jetzt genauso betreten wirkt und mir zustimmt.

„Du hast ja alles", bestätigt Noah noch einmal mit einem Blick auf das Sofa. Nickend bedanke ich mich.

„Gute Nacht, Ivory."

„Gute Nacht, Noah."

Er verschwindet im langen Flur und ich stehe verloren in dem großen Wohnzimmer. Es vergehen noch ein paar Sekunden, ehe ich das Licht ausschalte, natürlich mit einer Fernbedienung wie sollte es auch anders sein, und mich dann schlafen lege. Nur das an Schlaf nicht zu denken ist.

Am nächsten Morgen wache ich, der Aspirin sei Dank, nur mit mäßigem Kater und wenig Kopfschmerzen auf. Draußen beginnt es zu dämmern, was wohl darauf schließen ist, das es noch keine acht Uhr ist. Die Stille ist so angenehm, dass ich noch einen Moment lang mit geschlossenen Augen liegen bleibe und so tue, als wäre alles okay. Dann allerdings schleichen sich der Alltag und seine Probleme wieder in meinen Kopf. Seufzend schlage ich die dünne Decke beiseite, setze mich auf und sehe abwesend auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. Es fühlt sich komisch an, in Noahs Wohnung aufzuwachen und nicht in meinem Zimmer. Der Gedanke, bald wieder nachhause zu müssen, engt mich ein. Josy, Mama, Papa - und damit auch irgendwie Bailey und seine baldige Familie sind das letzte, mit dem ich mich beschäftigen möchte.

Mit leisen Schritten schleiche ich durch Noahs Wohnung, dabei fällt mir erst auf, dass sie gar nicht so trostlos eingerichtet ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Wände im Flur schmücken Bilder mit ihm, seiner Cousine, seinen Eltern und manchmal auch einer brünetten Frau. Im Badezimmer angekommen, kann ich nichts anderes tun, als meine langen Haare zu einem ordentlichen Zopf zu binden und mein Gesicht zu waschen. Weil ich natürlich keine Zahnbürste dabei habe, gebe ich mich fürs Erste damit zufrieden, Noahs Mundspülung zu benutzen.

Letztendlich fühle ich mich ein bisschen frischer als zuvor. Doch das Kleid kann ich nicht wieder anziehen, deshalb bleibe ich einfach in Noahs Klamotten und setze mich auf das Sofa. Gelangweilt ziehe ich mein Handy aus der Jacke, welche über der Sofalehne hängt. Unter diversen Nachrichten von Mia finde ich auch eine von Vio wieder.

Wollen wir heute zusammen einen Kaffee trinken? Ich kenne da was Cooles!

Ich weiß von einigen unseren Gesprächen, dass Vio in einem Viertel nicht weit weg von der Firma wohnt, und weil ich jede Ablenkung gebrauchen kann, entscheide ich mich dafür zuzusagen.

Sag mir eine Uhrzeit, ich werde da sein.

Es dauert keine zehn Minuten, da vibriert mein Handy erneut und Vios Name erscheint.

10 Uhr Firmenparkplatz. Weit laufen müssen wir nicht. Ich freue mich schon!

„Guten Morgen", Noahs Stimme lässt mich aufschrecken.

„Morgen", antworte ich, den Schreck immer noch in den Knochen. Die Stille und die Ruhe waren so angenehm, dass ich für einen Moment vergessen habe, dass Noah auch irgendwann aufstehen würde.

Er verkündet, dass er sich einen Kaffee macht, woraufhin ich nur nicke und beginne mein Schlafquartier der letzten Nacht aufzuräumen. Es dauert nicht lange, da ist die Decke ordentlich gefaltet und auch das Kissen liegt ordentlich obenauf.

„Gut geschlafen?" Er reicht mir eine Tasse Tee und setzt sich zu mir. „Ja", flunkere ich, nehme die heiße, dampfende Tasse entgegen und nicke. Gut geschlafen habe ich nicht unbedingt, aber irgendwie wäre es unhöflich das zu sagen. Immerhin hätte er mich gestern auch einfach nachhause schicken können, nachdem ich ihm seine Vase versaut habe.

„Du musst mich nicht anlügen", stellt er fest und presst die Lippen aufeinander. Seine grünen Augen mustern mich, während ich unwohl auf meinem Platz hin und her Rutsche. „So gut wie man eben schläft, wenn man betrunken ist", sage ich ausweichend und puste meinen Tee, damit er kälter wird. Kleine Wellen, wie in einem See, bilden sich.

Stirnrunzelnd nimmt er meine Antwort hin, dabei bin ich mir sicher, dass er mir nicht glaubt. „Und du?", ich sehe von meiner Tasse auf. Seine blonden Haare haben im Schein der Morgensonne einen rötlichen Stich. Was mir allerdings auffällt ist, dass er keine Sommersprossen mehr hat. Früher als wir beide noch Kinder waren, hatte er sie überall im Gesicht. Irgendwie sah das immer süß aus.

„Gut. Wie man halt schläft, wenn man eine gute Tat vollbracht hat", wiederholt er meinen Satz grinsend. Gespielt beleidigt haue ich ihm auf die Schulter.

„Darf ich dich was fragen?", platzt es plötzlich aus mir raus. Noah runzelt zuerst die Stirn, als würde er überlegen, ob er wirklich Ja zu meiner Frage sagen sollte. Letztendlich nickt er aber und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee.

„Was hat Felix gemeint, als er sagte, dass man dich sonst in ganz anderer Kleidung sieht? Mich verwundert es überhaupt, dass du Kontakt zu ihm hast. Wir waren immerhin zwei Stufen unter dir." Diese Frage hat mich schon die ganze Zeit beschäftigt. Es schien mir nicht, als hätte Felix das leichtfertig gesagt, sondern so, als wüsste, er wovon er redet.

Ein Schulterzucken von Noah. „Keine Ahnung. Vielleicht spielt er ja im gleichen Tennisclub und hat mich in Sportkleidung gesehen?" grinsend sieht Noah mich an, doch irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, das da etwas nicht stimmt. Das ist nicht sein normales Grinsen. Es wirkt viel eher, als würde er etwas verheimlichen wollen. Da ich Noah jedoch nicht kenne und kein Recht habe mich in seine Angelegenheiten einzumischen, antworte ich nur mit einem skeptischen nicken.

Mein Blick fällt auf die Uhr über dem Fernseher. Es ist halb neun, was bedeutet, dass ich mich bald losmachen muss, wenn ich um zehn Uhr am Firmenparkplatz sein soll.

„Danke für deine Gastfreundschaft", ich umarme Noah, der so nett war mir seine Jogginghose und sein Shirt zu leihen, zum Abschied. „Immer wieder gerne", antwortet er mit einem Lächeln im Gesicht.

„Schade, dass du jetzt schon fährst. Ich hätte uns das beste Frühstück gemacht", erklärt Noah grinsend.

„Ich weiß, aber Vio will sich mit mir treffen und ..."

„Vio?" Noah zieht die Augenbrauen zusammen, verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich an mein Auto.

„Ja, Violett. Sie arbeitet auch bei euch", erkläre ich, den Autoschlüssel in der Hand.

„Ivory, bei uns arbeitet keine Violett", entgegnet er eindringlich. Jetzt bin ich es, die verwirrt schaut.

„Doch", widerspreche ich. „In der Rechtsabteilung. Sie hat kurz vor mir angefangen."

Noah scheint immer noch zu grübeln, zuckt anschließend aber nur mit den Schultern. „Damit habe ich nichts zu tun, kann also schon sein", leitet er ein. Wissend und auch ein bisschen überheblich schaue ich ihn an, bevor ich in mein Auto steige und nachhause fahre, um mich umzuziehen.

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