Kapitel Vier ~ Hochzeitsglocken

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Mein Herz bleibt stehen, während ich wie angewurzelt mitten im Gang stehe und nicht weiß, ob ich mich nun umdrehen soll oder nicht.

Die Entscheidung wird mir allerdings schnell abgenommen, denn der braune Schopf taucht vor mir auf und sieht mich mit überraschter Miene an.

„Tatsächlich", murmelt er und schaut an mir runter. Mit meiner Hand halte ich mich am Einkaufswagen fest, als wäre er mein Anker, wobei ich nicht weiß, ob ich das möchte oder doch lieber im Boden versinke.

In mir bröckeln alte Erinnerungen hervor, die ich vor Jahren in die hinterste Ecke meines Gehirns verbannt habe.

„Bailey." Ich lege mein bestes Lächeln auf und drehe mich zu ihm um. Seit unserem Abschluss haben wir uns nicht mehr gesehen. Aus ihm scheint ein Mann geworden zu sein. Nickend fährt er sich mit einer Hand durch die braunen Haare, während die andere in seiner Hosentasche verweilt. Auch wenn Bailey körperlich den Eindruck macht, als wäre er erwachsen geworden, so trägt er immer noch die zerschlissenen Hosen und riesigen Stiefel wie früher.

Peinliche Stille schwebt in der Luft, während wir uns ansehen. Unsicher wackle ich auf meinen Füßen hin und her, in der Hoffnung das der Boden sich noch öffnet.

„Wie gehts dir?", fragt er letztendlich. Die Neugier in seiner Stimme zeigt mir, dass es ihn wohl wirklich interessiert.

Früher hätte ich Bailey in so einer Situation mein Herz ausgeschüttet, ihm von meinen Problemen erzählt und er hätte mich dann in den Arm genommen und getröstet. Er hätte mir gesagt, dass alles wieder gut wird und das es nur eine Phase ist.

Heute allerdings weiß ich, dass ich mit Bailey nicht mehr über solche Sachen reden kann. Wir haben uns auseinander gelebt und vielleicht ist das auch gut so. Alte Wunden aufreißen war noch nie eine sonderlich gute Idee.

Und weil ich heute weiß, dass ich mit meinem ehemaligen besten Freund nicht mehr über solche Sachen reden kann, antworte ich einfach nur „Gut." und erkundige mich nach seinem Befinden.

Doch im Gegensatz zu mir, scheinen für Bailey manche Dinge in unserer Vergangenheit nie existent gewesen zu sein, denn kaum das ich nachfrage wie es ihm geht, schießen die Informationen nur so aus ihm heraus. Er hat sein Studium letztes Jahr abgeschlossen, wohnt immer noch oder wohl eher wieder bei seinen Eltern und hat einen Job bei einer der besten Firmen in der Gegend, die sich mit erneuerbaren Energien auseinandersetzt. In Baileys Leben scheint wie immer alles perfekt zu laufen.

Während er erzählt beiße ich mir auf die Lippe und muss mich konzentrieren, um nicht vor Neid grün anzulaufen. Alles, was Bailey hat, ist das, was ich möchte und aus irgendeinem Grund, von dem ich keine Ahnung habe, nicht besitze.

Ich scheine so sehr in meinen Neid vertieft zu sein, dass ich Bailey ab einem gewissen Punkt nicht mehr zugehört habe, denn seine große Hand winkt auf einmal vor meinen Augen und er schaut etwas verwirrt drein.

"Du kannst gerne kommen, wenn du möchtest", wiederholt er seine offensichtliche Einladung. Wahrscheinlich bemerkt Bailey meinen verwirrten Gesichtsausdruck, was der Grund dafür ist, dass er seine Aussage erneut wiederholt.

„Zu unserer Hochzeit."

Die Worte, die der Braunhaarige spricht, als wären sie kaum von Bedeutung was uns betrifft, rammen sich mitten in mein Herz und lassen mich mit einem Brennen in der Brust zurück.

„Hochzeit", wiederhole ich und lasse das ganze sacken. Wie selbstverständlich nickt Bailey mir entgegen, die Augen groß, als hoffe er wirklich, dass ich zu seiner Hochzeit komme.

„Hör mal", er atmet tief ein, nimmt seine Hände aus den Hosentaschen nur um sie in der Luft hängenzulassen.

„Das, was damals war, ist Jahre her und ich weiß, du fühlst dich dabei wahrscheinlich unwohl, aber das musst du nicht. Ich habe damit abgeschlossen. Es ist als wäre es nie passiert."

Mehr als ein Nicken bekomme ich nicht auf die Reihe. Er hat also mit allem abgeschlossen, was vor Jahren einmal war. Während ich hier stehe und mich mit aller Kraft an meinen Wagen klammere, in der Hoffnung nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Nie passiert also." Ich rede mehr zu mir selbst, als mit ihm, was ihm aber nicht klar zu sein scheint, denn das einzige, was er tut, ist nicken und mit den Schultern zucken.

Plötzlich überkommt mich eine unglaubliche Wut, gemischt mit Verachtung und Hass.

„Hast du ihr jemals die Wahrheit erzählt?", blaffe ich und verziehe sauer mein Gesicht. Ich scheine einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn Bailey lässt den Kopf hängen und schüttelt ihn gleichzeitig.

„Na dann eine schöne Hochzeit." Ist das Einzige, was ich noch sage, bevor ich meinen Wagen nehme und Richtung Kasse laufe.

Mehr als vor Unglauben den Kopf zu schütteln, kann ich nicht. Fünf Jahre hin oder her, wie kann man mit Lügen in die Ehe gehen, wenn doch klar ist, dass die Wahrheit früher oder später immer ans Licht kommt?

Da ich keine Lust habe lange an der Kasse zu stehen und mit Menschen in Kontakt zu kommen, entscheide ich mich für die Selbstbedienung. Gedankenverloren ziehe ich ein Teil nach dem anderen über den Scanner und packe sie in die Tüten.

Zu Hause angekommen drücke ich die Klingel, von der ich nur vermuten kann, dass es unsere ist. Glücklicherweise liege ich nicht falsch, denn es dauert nicht lange und schon ertönt das leise Brummen der Anlage.

Mom öffnet mir die Tür und sieht mich verwundert an.

„Euer Kühlschrank ist leer", erkläre ich und drängle mich an ihr vorbei. Den daraufhin folgenden Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, weshalb ich einfach weiter laufe und die schweren Taschen auf dem Küchentisch abstelle.

Während ich alles einräume, in die Schränke, in welche ich die Lebensmittel für richtig halte, spüre ich ihren Blick deutlich auf mir. Ich versuche zu ignorieren, dass sie die ganze Zeit über in der Tür steht, offenbar unschlüssig, was sie tun oder sagen soll und konzentriere mich lieber auf andere Sachen.

Meine Gedanken wandern immer wieder zu Bailey und erinnern mich daran, wie verletzt ich eigentlich bin. Es gab einige Momente in den letzten Jahren, in denen ich an ihn denken musste, doch ich habe so oft wie möglich versucht es zu verdrängen.

Bailey und Jane - das perfekte Paar wird heiraten. Alleine bei dem Gedanken daran kommt mir die Galle hoch und ich verziehe das Gesicht. Das Leben scheint zurzeit in allen Aspekten unfair zu sein.

Während verlogene und hinterhältige Menschen alles in den Schoß zu fallen scheint, bricht bei mir alles auseinander von dem ich dachte, das es Beständigkeit in meinem Leben hatte.

Angestrengt atme ich aus und konzentriere mich darauf nicht zu weinen. Das Letzte, was ich tun sollte, ist den negativen Dingen in meinem Leben noch mehr Entfaltungsfreiraum geben.

„Hey..." Mamas Arme legen sich um mich. Ihre Stimme klingt nicht harsch, im Gegenteil, sie ist voller Mitleid. Und auch wenn das Verhältnis zu Mama gerade nicht das Beste ist, tut es gut jemanden zu haben, an den ich mich anlehnen kann.

Für einen kurzen Moment bleiben wir so stehen, bevor ich mich von ihr löse und mit meiner Hand eine abwinkende Geste mache.

Doch überzeugt scheint sie immer noch nicht zu sein. Mit einem kleinen Grinsen holt sie eine Schachtel aus einem der Schränke und zieht etwas heraus.

Unser kleines Geheimnis.

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