Ausgelaugt vom heutigen Tag setze ich mich auf mein Bett und starre gegen die, noch kahle Wand. Das Bett ist das Einzige, was von meinem alten Zimmer noch übrig geblieben zu sein scheint.
Nachdem Josy mir mein Zimmer gezeigt hat, haben wir die Kisten nach oben getragen. Während der ganzen Zeit war sie nicht wirklich redefreudig. Sie wirkt niedergeschlagen. Wahrscheinlich hat sie sich das Wiedersehen ganz anders vorgestellt. Genauso wie ich. Der Raum ist relativ groß, größer als das Zimmer meiner Schwester. Das hat sie mich gleich zu Beginn wissen lassen. Allerdings sind die Wände mehr grau als weiß. Das Fenster habe ich direkt aufgerissen, aber um den stickigen Geruch wegzubekommen, muss ich wohl einmal alles wischen.
Überfordert von der ganzen Situation, lasse ich mich mit meinem Körper auf das Bett fallen. Meine Beine baumeln immer noch über der Kante. Mit geschlossenen Augen versuche ich mich in eine schönere Welt zu denken. Als wir unser Haus noch hatten, mein Vater nicht wie der Tod aussah und das Verhältnis zu Mama und Josy noch besser war.
Meine Träumereien werden nach einer Weile jedoch von kleinen Wassertropfen unterbrochen, die mir unaufhörlich ins Gesicht schlagen. Murrend öffne ich meine Augen und muss feststellen, dass ein offenes Fenster und Regen keine gute Kombination sind.
Es klopft an meiner Zimmertür, was mich letztendlich dazu bewegt aufzustehen und das Fenster zu schließen. Ohne das ich antworte, betritt mein Vater das Zimmer mit einem Gehstock in der Hand.
Fragend sieht er zu dem Stuhl, welcher an dem Tisch steht, der mir wohl als Schreibtisch dienen soll. Ich nicke ihm nur zu und sage nichts. Weil die Tür nicht richtig zu, sondern nur angelehnt ist, kann ich das Ticken einer Uhr hören, die vermutlich im Flur hängt.
Die Stille ist erdrückend. Kurz bin ich mir unsicher, ob Papa überhaupt etwas sagen will, oder ob er erwartet, dass ich zuerst etwas sage. Doch das hat sich Gott sei Dank schnell wieder erledigt, als er Luft holt und zum Reden ansetzt.
„Du hast uns sehr gefehlt, Ivory." Papa meint es ehrlich. Zwar redet er so leise, dass ich es kaum verstehen kann, aber seine Worte klingeln warm. Die Art, wie er es sagt, klingt jedoch gequält. Fast, als hätte er Angst, ich würde es ihm nicht glauben.
Natürlich glaube ich ihm. Jedoch gibt es Dinge, die jetzt dringender besprochen werden müssen, als die Tatsache, dass ich ihnen gefehlt habe.
„Ich weiß." Ist das Einzige, was ich dazu sage. Unsicher setzte ich mich auf mein Bett und verschränke die Arme.
Desto länger ich meinen Vater ansehe, wie er da sitzt und offensichtlich Probleme hat aufrecht sitzen zu bleiben, umso mehr schmerzt mein Herz. Eine Seite in mir möchte nachfragen was er hat, die andere möchte nicht mit der Tür ins Haus fallen, weshalb ich einfach nur unentschlossen auf meinem Bett sitze und auf meine Beine starre.
„Deine Mutter hat es nicht verdient, dass du so hart zu ihr bist, Ivy. Sie wollte immer nur dein Bestes", ist das erste, was mein Vater zu mir sagt. Es sind nicht die Worte, die ich unbedingt hören wollte und weil ich nicht vorhabe auf sie einzugehen, belasse ich es bei einem argwöhnischem Nicken.
„Ich weiß, dass viel passiert ist und vieles davon ist momentan unwichtig. Ich möchte nur wissen, was du hast. Du siehst einfach schrecklich aus." Mir ist bewusst, dass Papa selbst weiß, wie er aussieht, deshalb nehme ich auch kein Blatt vor den Mund. Gerade heraus war immer seine Art. Und auch wenn er sich äußerlich sehr verändert hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sein Charakter darunter gelitten hat. Zumindest hoffe ich es.
Papa brummt etwas in seinen schon leicht grauen Bart, dass ich nicht verstehen kann. Doch bevor ich dazu komme nachzufragen, kommt er mir zuvor.
„Mir wird es bald besser gehen, mach dir keinen Kopf." Seine warmen Augen mustern mich genauestens, während er spricht. Ein wenig geknickt lasse ich den Kopf hängen und seufze. Natürlich habe ich keine Ahnung, aber es sieht nicht so aus, als würde es ihm bald besser gehen. Ganz im Gegenteil.
Da sich noch während der Unterhaltung mit Papa mein Magen bemerkbar macht, um mir in Erinnerung zu rufen, dass ich heute noch nichts gegessen habe, verlasse ich zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten mein Zimmer um die Küche zu suchen. Viel Auswahl gibt es anhand der kleinen Wohnung nicht, weshalb das auch kein großes Problem darstellt.
Mama hat sich den ganzen Tag über nicht mehr blicken lassen, Papa und Josy mussten zum Arzt, weshalb ich eine Zeit lang einfach nur da saß und versucht habe, die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Dabei sind die ganzen Informationen nur langsam in mein Gehirn gesackt und auch nach Stunden nicht wirklich angekommen.
Enttäuscht muss ich feststellen, dass der Kühlschrank meiner Eltern im Moment nicht allzu viel hergibt. Wahrscheinlich haben sie so gut wie kein Geld, jetzt wo beide nicht arbeiten gehen. Zumindest gehe ich davon aus. Papa ist dazu nicht in der Lage und Mama, die macht nicht den Anschein als gäbe es irgendwas, dass sie zurzeit aus dem Bett befördern würde.
Da sich nichts im Kühlschrank befindet, was mir zusagt und ich auch nichts in den anderen Schränken finden konnte, schnappe ich mir meine Schlüssel und laufe die Treppe nach unten. Auf dem Weg begegnet mir ein Mann, der schon älter zu sein scheint. Verwirrt sieht er mich an, schüttelt dann aber den Kopf, als wäre es ihm egal und verschwindet in der untersten Wohnung.
Kurz bin ich mir nicht sicher, ob ich zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren soll. Letztendlich siegt die Faulheit und ich finde mich in meinem jetzt leeren Wagen wieder.
Während ich durch die Straßen in Richtung des Supermarkts fahre, überkommen mich immer wieder alte Erinnerungen. Dinge, die ich mit Freunden erlebt habe, Dinge, die ich nur alleine erlebt habe und Dinge, die wir getan haben, welche wir nie hätten tun sollen. Aber so ist das, wenn man jung ist. Man macht Dummheiten. Dummheiten die mich beinahe um meine Aufnahme an der Universität gebracht hätten.
Letztendlich lande ich aber nicht beim Supermarkt, wie eigentlich geplant, sondern vor unserem alten Haus. Es hat aufgehört zu regnen, doch die Straßen glitzern immer noch. Alles sieht irgendwie anders aus, doch vieles scheint noch gleich.
Die Gardinen sind neu, die Veranda hat einen neuen Anstrich, aber es stehen immer noch die gleichen Gartenmöbel vor dem Haus wie früher. Unsere Gartenmöbel.
Der Rasen wirkt, als würde sich niemand wirklich darum scheren, wie er aussieht. Papa hat es immer geliebt den Rasen zu mähen, die Blumen zu gießen und alles schön zu halten. Es war seine Art abzuschalten, wenn der Alltag zu stressig wurde. Und jetzt gehört das alles nicht mehr uns.
Die Tür öffnet sich plötzlich und aus dem Haus kommt ein kleines Mädchen gerannt. Sie ist höchstens vier, in ihrem Gesicht liegt ein breites Grinsen, als sie Anlauf nimmt und in eine Pfütze springt. Eine Frau mit blonden Haaren, gut gekleidet, folgt ihr und seufzt, ehe sie das Mädchen an die Hand nimmt und mit ihr in Richtung Auto geht.
Erst jetzt fallen mir die vielen Tränen auf, die über meine Wangen laufen. Kopfschüttelnd wische ich sie weg. Innerlich verfluche ich mich dafür, jetzt zu weinen. Es gibt keinen logischen Grund dafür - im Gegenteil: Es ist einfach unlogisch. Ich sollte nicht hier in meinem Auto sitzen, offensichtlich auf ein Haus starren, welches anscheinend schon lange nicht mehr meiner Familie gehört und weinen.
Bevor meine Gedanken noch weiter in den Abgrund rutschen starte ich meinen Motor und konzentriere mich mit aller Kraft darauf, zum Supermarkt zu fahren. Ich lasse keine Gedanken zu, die nichts mit dem eigentlichen Weg zu tun haben, bis ich schließlich auf den Supermarktparkplatz fahre und anhalte.
Innen fällt mir zur Erleichterung auf, dass sich zwar vieles verändert zu haben scheint, aber dennoch nicht alles. Zumindest der Supermarkt nicht. Diese eine Sache, die sich immer noch so vertraut anfühlt wie damals, gibt mir ein bisschen Sicherheit.
Gedankenverloren lege ich alles in den Einkaufswagen, von dem ich denke, das meine Familie es gebrauchen kann. Mir ist es lieber, der Schrank ist zu voll, als dass das er zu leer ist.
Es wundert mich, dass mir bis jetzt noch kein bekanntes Gesicht über den Weg gelaufen ist. Gotsburgh ist keine wirklich große Stadt, hier kennt man seine Mitmenschen und seine Nachbarn noch genauer.
Während ich überlege, welche der beiden Marken für Spaghetti ich nehmen soll, weil sie sich preislich kaum unterscheiden, tippt mir jemand auf die Schulter.
Noch bevor ich mich umdrehen kann, ertönt eine männliche Stimme, die ich schon fast wieder vergessen habe.
„Ivory?"
Aber nur fast.
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Blue Jeans
Teen FictionIvory und Noah waren beste Freunde. Nichts konnte die beiden trennen, zumindest dachte Ivory das, bis Noah eines Tages aus heiterem Himmel den Kontakt zu ihr abbricht. Jahrelang herrscht Funkstille zwischen den ehemals besten Freunden. Erst als Ivor...