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Mittwoch, vierter Januar 2017:

Louis:

Ich hatte von Miami den letzten Flug nach Tuscaloosa an diesem Tag genommen. In knapp einer halben Stunde würden wir landen und ich war heilfroh, dass meine Reise dann endlich zu Ende war.

Harry... Braune Haare, grüne Augen, wobei sich Letztere in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Und die Grübchen... Diese unwiderstehlichen Grübchen. Diesen Mann musste man einfach lieben!

Nie im Leben hatte ich erwartet, auf der Writers Con jemanden zu treffen, der so jung, cool und hip war. Und als ich dann noch seine Tattoos gesehen hatte... Ich hatte nicht widerstehen können und war jede Linie einzeln mit meinen Fingerspitzen nachgefahren.

Harry war für mich ein Gott. MEIN Gott! Seit Jahren war ich immer tiefer gesunken, hatte kaum mehr Artikel oder Kurzgeschichten geschrieben und die Writers Con war meine letzte Hoffnung gewesen und dann hatte ich Harry gesehen. Bis zu diesem Moment hatte ich immer von mir geglaubt, dass ich hetero war. Ich hatte ein homoerotisches Erlebnis gehabt, aber es war nicht das Wahre gewesen, Deshalb hatte ich mich wieder Frauen zugewandt.

Mit Harry war es anders. Auch anders als mit jeder Frau. Mein Körper verlangte nach ihm - mein Herz hingegen schrie seinen Namen.

Nervös rutschte ich in meinem First Class Sitz herum und starrte auf den Flugtimer, 29:28 Minuten verbleibende Flugzeit blinkten mich an.

Noch eine halbe Stunde bis zu Harry! Ich freute mich auf ihn und seine Welt, Holyfield war doch die perfekte kleine Welt nach der Anonymität der Großstadt. Wenn es mit dem Schreiben nicht lief, dann konnte ich doch immer noch irgendwo anheuern.

Ich war glücklich, ich war in Amerika! Harry hatte mir versprochen, dass ich noch heute seine Familie und Freunde kennenlernen würde und darauf freute ich mich so unsagbar.

Endlich würden wir offen gemeinsam leben können.

Harry:

Seit einer geschlagenen Stunde saß ich in diesem Flughafenrestaurant und wartete auf Louis.

Endlich, ENDLICH hatte er sich dazu entschlossen, zu mir in die Kleinstadt zu ziehen, in der ich aufgewachsen war, und von der aus ich vor einem Jahr zur Writers Con nach London geflogen war. Ich war zwar nur ein einfacher Zeitungsredakteur, hatte aber damals mit dem Gedanken geflirtet, ein Buch zu schreiben. Ich hatte nach Anregungen gesucht – und gefunden hatte ich Louis.

Ich liebte ihn! Die Art und Weise, wie er mich ansah. Wie seine blauen Augen immer eine Nuance dunkler wurden, wenn wir uns küssten. Wie er mich in nur einer einzigen Sekunde aufheitern konnte, wenn ich mal schlecht drauf war. Wie er „Oioi" sagte und dabei verschmitzt grinste, wenn ihm etwas gefiel. Ich war ja schon immer schwul gewesen, aber kein Mann hatte es je geschafft, mich so umzuhauen. Nur Louis.

Ein Jahr Fernbeziehung, das mir wie ein Jahrzehnt vorgekommen war, würde heute noch enden. Gottseidank! Ab morgen würde ich jeden Tag neben Louis aufwachen können. Mit ihm frühstücken. Nach der Arbeit zu ihm nach Hause kommen. Ganz normaler Alltag eben. Er und ich.

Nur dass wir das Entscheidende leider verheimlichen mussten, denn offiziell war Louis einfach nur mein guter Bekannter aus England, den ich bei mir wohnen ließ, bis er etwas Eigenes finden würde. Beim Gedanken daran bekam ich ein ungutes Gefühl im Bauch, auch weil ich ihm das heute noch schonend beibringen musste. Aber nur so konnte es in Holyfield funktionieren. Es gab in meinem Leben nur zwei Menschen, die wussten, dass ich schwul war – und das hatte einen guten Grund.

Über den Lautsprecher wurde Louis Flugnummer aufgerufen, mit der Information, dass sein Flug in fünf Minuten landen würde.

Ich grinste dümmlich vor mich hin. Dass ich dabei wie ein Vollidiot aussehen musste, war mir egal. Louis wusste, wo er mich finden würde, also blieb ich einfach sitzen und wartete auf ihn.

Jede Minute kam mir wie eine Stunde vor.

Und dann war es endlich soweit.

„Oh mein Gott, deine Haare sind kurz!", rief Louis und wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. „Lou!". Er stürmte auf mich zu – und dann umarmten wir uns innig. Ich inhalierte seinen Geruch, der mir unsagbar gefehlt hatte, und hielt ihn einfach fest. „Wann hast du sie dir schneiden lassen?". „Gestern, von Lily". „Die Arme", sagte Louis und löste sich von mir. „Ja, sie war ziemlich sauer auf mich, aber da musste sie durch". „Es gefällt mir". Wortlos strahlte ich ihn an und betrachtete sein schönes Gesicht. „Ich bin hier", sagte er. Dann drückte er seine Lippen auf meine und küsste mich zärtlich.

Ja, das war er – er war hier.

Bei mir.

Louis:

Harry strahlte heller als die Sonne.

Ihn endlich wieder küssen zu können, ihn zu berühren... Mir fehlten die Worte. Normalerweise war ich nicht nah am Wasser gebaut, aber als ich jetzt meine Hand durch seine kurzen Haare gleiten ließ und in seinem Blick versank, hatte ich plötzlich Tränen in den Augen.

Harry schüttelte lächelnd den Kopf und küsste mich erneut. Schwer atmend unterbrach ich den Kuss und lehnte meine Stirn an seine. "Du bringst mich um den Verstand, Love.", flüsterte ich. Harrys Grinsen wurde immer breiter und überschwänglich drückte er mich wieder an sich. Lachend quittierte ich diesen "Überfall" und als er mich endlich aus seiner Umarmung entließ, richtete ich zuerst meine Haare und dann meine Kleidung.

"Komm, ich bringe dich nach Hause.", sagte Harry und nahm meine Reisetasche vom Boden. "Ich kann es gar nicht erwarten, zu sehen, wie du lebst, wo du aufgewachsen bist. Und ich freue mich auf deine Familie." Harry antwortete nicht, nahm aber meine Hand und gemeinsam verließen wir das Flughafengebäude.

Ich schnupperte den Geruch von Alabama und stellte dann fest, dass ich den Geruch von London nicht vermisste. Vor der Ankunftshalle parkten vielleicht zwanzig Fahrzeuge und Harry führte mich zu seinem Wagen.

Schweigsam luden wir meine Sachen ein und ich hatte plötzlich den Eindruck, dass Harry nervös war. "Alles okay?", fragte ich ihn und war mit einem Mal verunsichert. "Ja, alles bestens.", antwortete er und wir machten uns auf den Weg nach Holyfield, von dem ich bisher nur Gutes gehört hatte. Deutlich hatte ich Harry angemerkt, dass er seine Heimatstadt liebte und mit Herz und Seele Holyfieldianer war. Ich liebte ihn und er Holyfield, als würde ich es auch lieben. Wo Harry war, war auch mein Herz.

Tuscaloosa war nicht weit entfernt, falls ich mal Lust auf das Stadtleben bekam, aber so wie Harry mir seine Stadt beschrieben hatte, gab es dort alles was man wollte. Wie oft hatte er mir davon erzählt, wie viel Spaß er und seine Freunde in Horans Irish Pub hatten?

Endlich würde ich nicht mehr nur bei den Erzählungen lachen, sondern es selber erleben.

"Jane und Lily kochen für uns, die beiden freuen sich schon so sehr auf dich. Und morgen zeige ich dir dann die ganze Stadt und löchere dich mit Fragen für das Interview." "Interview?" Harry grinste mich verschmitzt an. "Ich soll einen Artikel über unseren vierhundertsten Bewohner schreiben und dafür brauche ich ein paar Antworten von dir." "Aber du weißt schon alles.", grinste ich. Harry legte mir seine Hand auf den Oberschenkel und sein Zeigefinger zeichnete Kreise auf meine Hose.

"Irgendwas werd ich schon noch aus dir rauskitzeln." "Herr Starreporter...", scherzte ich und Harry lachte. Gott, wie sehr hatte ich den Klang seines Lachens vermisst!

"Taaadaaaaaaaaaa!", rief Harry schließlich und deutete auf das Ortsschild von Holyfield. "Home of 399 proud people.", las ich und Harry hielt fluchend an. Er stieg aus und lief zu dem Schild. Dort lag im Gras ein Zettel, auf dem riesengroß "400" stand. Harry pinnte die neue Zahl wieder an und kam grinsend zurück. "Hatte ich extra aufgehängt, bevor ich dich abgeholt habe.", sagte er entschuldigend und stieg wieder ein. "Du bist verrückt!", lachte ich und wollte ihn küssen, aber er drehte sich weg.

Oops, was war denn jetzt los? Ich war wie vor den Kopf gestoßen!

Another WorldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt