Kapitel 4

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Die einzige Sache, die sich für mich als unmöglich ansah, war das jemand, der für unsere Sicherheit vor den Unwürdigen sorgte, genau das Gegenteil tat. Denn genau dieses geschah gerade vor meinen Augen. Ein Wächter schlug dort gerade eine Unwürdige.
Nur vielleicht war es auch ihre Schuld. Vielleicht hatte sie etwas gestolen. Vielleicht war sie eine Prostituierte oder vielleicht wollte sie ihn umbringen, aber vielleicht spielte sich vor meinen Augen auch gerade ein Regelverstoß ab.
Als der Mann dann auch noch ein Messer zog, war klar, dass er ein Unwürdiger war. Er war dieser Uniform nicht würdig. Dieser Uniform, die Schutz und Gerechtigkeit versprach. Genau in diesem Moment wurde ein Wächter unwürdig. Doch was war, wenn er dieses Verbrechen schon einmal begangen hatte. Was war dann?
Meine Beine zitterten. Ich war unfähig mich zu bewegen. Ein Teil meines Körpers gehorchte mir nicht mehr. Ein leises Wimmern schlich sich über meine Lippen. Dies konnte nicht stimmen.
Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie der Mann auf das zitternde Mädchen einschlug. Das Messer presste er an ihren Hals. Ich wollte ihr helfen, das wollte ich wirklich, aber ich schaffte es einfach nicht. Weder meine Beine noch meine Stimme gehorchte mir. Also musste ich weiter zusehen.
Solange bis der Blick des Mädchens auf mich fiel. Ihre Augen schauten flehend zu mir. Dies war der Auslöser. Auf einmal hatte ich meinen Körper wieder unter Kontrolle. Ein Hilferuf drang aus meinem Mund und mit schnellen Schritten lief ich zu dem Mädchen hin. Zwar hatte ich keinen Plan, aber notfalls konnte ich den Kerl auch noch mit dem Geld in meiner Tasche bestechen.
Somit hatte ich zwar keinen richtigen Plan, aber dafür einen Notfallplan.
Nun konnte man mich nicht mehr zurück halten. Schnurstracks lief ich durch die Gosse auf die beiden zu. Doch dann umgriff mich eine Hand. Sie hielt mich an meinem Arm zurück und zerrte mich weg.
Verwirrung machte sich in mir breit. Von wem wurde ich gerade weg gezogen und warum ließ ich das zu? Die Antwort auf meine zweite Frage war einfach. Der Mensch war mindestens hundertmal stärker als ich. Meine zweite Frage beantwortete sich auch schon kurz darauf. Denn nun hielten wir in einer der Nebenstraßen an. Zum ersten Mal konnte ich demjenigen in die Augen blicken. Vor mir stand ein Mann, ein junger Mann, vielleicht war er um die 20 Jahre alt.
Dies war das Erste, was ich bemerkte, das Nächste war, dass er ziemlich gut aussah.
Zumindest traf der Typ vor mir zu ungefähr 96 Prozent auf meinen Traummann zu. Das Einzige, was mir nicht so gefiel, waren seine Augen. Sie strahlten nicht einen Hauch von Wärme aus. Fast konnte ich die Kälte auf meiner Haut spüren, die diese Augen bei jedem Blick abgab.
Doch dann wannte der Unbekannte seinen Blick ab.
"Ich habe noch nie eine so unvernünftige Person gesehen. Was hast du dir denn dabei gedacht? Wie hättest du denn dem Mädchen helfen sollen?"
Was das werden  sollte, frage er mich?
"Warum wolltest du überhaupt helfen?"
"Ganz zufällig wollte ich dem Mädchen helfen, weil sie in Gefahr war. Wer hätte das gedacht?"
Der Unbekannte lachte auf und fuhr sich durch seine Haare.
"Du bist ein Reiche, was interessieren dich die Probleme von uns."
"Du meinst, was mich die Probleme der Unwürdigen interessieren? Das kann ich dir sagen. Sie interessieren mich rein gar nichts." meine Stimme wurde in einem crescendo stetig lauter. "Was mich aber interessiert, sind die Fehler von eigentlich Würdigen. Soll ich etwa zusehen, wie jemand so Unwürdiges damit davon kommt, wie so jemand danach einfach wieder auf Würdig tut, der Gesellschaft ein falsches Spiel vor spielt? Soll ich dabei wirklich zusehen?"
Empört schnappte er nach Luft. "Aber genau das macht ihr doch jeden Tag. Allein die Bezeichnung würdig und unwürdig ist doch ein Verstoß gegen eure ach so tollen Regeln."
Die Bezeichnungen sollten ein Verstoß sein, dieser Mann erzählte scheinbar nur Quatsch.
Leider konnte ich mich irgendwie nicht dazu bewegen selbst etwas zu sagen, etwas zu erwidern. Ich schaffte es nur ihn anzustarren, als wäre er ein Alien. Aber auch davon ließ er sich nicht beirren. Er kam sogar noch auf mich zu und näherte sich meinem Ohr.
"Bevor du das nächste Mal auf große Heldin tust, schau dich erst einmal in deiner Umgebung um. Für wen sind die Regeln eigentlich gemacht und vor allem was war vor den Regeln?"
Auf einmal zog er sich an der Hauswand hoch und war schneller verschwunden, als ich schauen konnte.
Die Wärme, die sich in mir ausgebreitet hatte, als er mir so nah gekommen ist, war innerhalb eines Augenblickes wieder verflogen. Übrig blieb also nur ich, alleine stand ich in der Seitengasse und wusste nicht mehr genau, wo ich eigentlich war.
Frustation breitete sich aus, als ich auch nach zehn Minuten keinen blassen Schimmer hatte, wo ich mich befand und wie ich nach Hause kommen sollte. Es war zum Verrückt werden. Orientierungslos irrte ich durch die Straßen und versuchte verzweifelt etwas zu finden, woran ich mich errinnern konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte ich ein Schild, dass mir bekannt vorkam.
So fand ich dann schließlich auch meinen Weg nach Hause. Dort wurde ich schon sehnsuchtsvoll erwartet. Scheinbar hatten sich meine Eltern schon um mich Sorgen gemacht. Leider hatte diese Ewigkeit mir ziemlich viel Zeit gelassen über den Nachmittag nachzudenken. Bei der Errinerung war mir bewusst geworden, dass die junge Frau eigentlich noch ein Mädchen war. Also durfte sie noch nicht mal als unwürdig gelten, oder nicht? Vielleicht war sie auch schon in ihren jungen Jahren stark aufgefallen durch ihr unwürdiges Verhalten. Doch was war, wenn sie einfach dort aufgewachsen war. Schon häufiger habe ich mich gefragt, was mit den Kindern der Unwürdigen geschah. Nur habe ich normalerweise nicht länger darüber nach gedacht. Aber heute, wo ich hautnah bei einem Verbrechen dabei gewesen war, schaffte ich es nicht meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Ich konnte nicht anders, als die ganze Zeit an dieses Mädchen zu denken. An ihreren hilflosen Blick, an ihre wässrigen Augen und an dieser Stärke, die sie ausgestrahlt hatte. Es war ganz so, als wüsste sie was kommen wird und sie es auch schon kannte. Doch ich wollte diese Gedanken gar nicht erst zu lassen. Dieses Verbrechen konnte keine Normalität im Nordviertel sein. Das war einfach nicht möglich. Nur leider wurde mir heute das Gegenteil bewiesen. Heute wurde schon einmal mein Wissen in seinen Grundfesten erschüttert.
Den ganzen Abend lang schwieg ich. Noch nie war ich so sehr in Gefahr geraten wie am heutigen Nachmittag. Mein Leben lang hatte ich tief in mir gewusst, dass es im Nordviertel vollkommen anders zu geht als hier, aber mir wurde noch nie gezeigt, wie anders es doch war und diese neue Erkenntnis trieb Zweifel zu meinem Herzen. Wie konnten wir unsere Stadt verehren, wenn wir jeden Tag unsere Augen vor der Ungerechtigkeit direkt vor uns schließen und über sie hinweg sahen. Doch ich kannte es nicht anders und so tat auch ich genau das ein weiteres Mal.

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