Kapitel 39

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Gezwungenermaßen klappte ich das Buch nach dem ersten Eintrag erst einmal zu. Meine Mutter hatte schon mehrfach nach mir gerufen und dies bedeutete, dass sie, wenn ich nun immer noch nicht die Treppe runter gehe würde, jeden Moment hoch in mein Zimmer kommen würde und eine Szene wahrscheinlich verantstalten würde. Dies war eine Sache, welche man nach achtzehn Jahren in diesem Haushalt sich nun wirklich nicht mehr geben wollte.
Also legte ich das Tagebuch schnell unter mein Kopfkissen und machte mich danach auf den Weg nach unten. Dort warteten schon meine Eltern und meine Schwester. Mir war gar nicht bewusst, dass wir heute mal wieder eines dieser Familienessen durch führen würden. Mein Schwager war zumindest noch nicht da, doch die Frage, ob er heute überhaupt kommen würde, beantwortete Annabeth genau in diesem Moment unserer Mutter. Scheinbar gab es sehr viel zu tun im Büro, weswegen ihr lieber Ehemann leider erst nachkommen können wird. Die Ausdrucksweise meiner Schwester hatte sich seit ihrer Hochzeit ziemlich stark geändert. Doch ich war mich bewusst, dass meine Eltern diese Veränderung als positiv ansahen. Es freute sie wahrscheinlich, dass ihre Tochter sich diese Sprache angewöhnt hat, da diese davon zeugte, dass sie seit ihrem schönsten Tag ihres Lebens viel häufiger auf diese Gesellschaftsevents der Oberschichte von unserer Stadt eingeladen wurde. Dies wurde sie auch, wenn schon im Vorhinein klar ist, dass ihr Ehemann nicht kommen würde. Als das Traumpaar der Familie nur verlobt war, war dies nicht der Fall. Ganz so als würden die feinen Damen und Herren im Geheimen noch hoffen, dass der perfekte Alexander sich doch bitte eine feine Dame aus einer anderen Familie suchen könnte und meine Schwester für diese Frau dann sitzen lassen.
Mir war auch bewusst, dass diese Gedanken hauptsächlich durch meinen Onkel aufgerufen wurden. Obwohl seit Neustem konnte ich auch sagen, dass solche Gedanken auch teilweise von meinem Verhalten herrühren.
Freundlich grüßte ich meine Schwester, welche sofort im gleichtakt mit meiner Mutter ihre Nase rümpfte, als sie mein Auftreten bemerkten. Rasch sah ich an mir herab und auch mir fiel auf, dass ich so überhaupt gar nicht zu dem Erscheinungsbild der anderen Mitglieder dieser Familie passte. Ich trug nur eine einfache Hose mit einem langweiligen T-Shirt, wohingegen die teuren Kleider und der Anzug meines Vaters das komplette gegenteil zu bildeten.
Um meine Familie oder genauer gesagt meine Mutter nicht zu verärgern, entschuldigte ich mich sofort und klärte sie auf, dass ich von dem geplanten Essen nichts gewusst habe. Daraufhin erlaubte man mir mich noch schnell umzuziehen. Immerhin wollte man sich ja nicht vor dem Sohn der Familie Crowe eine Blöße geben.
Erst als meine Mutter mit der Wahl meiner Kleidung zufrieden war, ließ man mich in Ruhe und das Essen begann. Doch ich hatte einfach nicht den nötigen Hunger, um wirklich viel zu verspeisen. Der Eintrag von Fabian saß mir noch tief in den Knochen.
Er hatte das im Eintrag beschriebende vor fast drei Jahren erlebt. Begonnen mit dem Tagebuch hatte er vor fast einem Jahr. Seine Geschichte, dass er schon sehr lange unwürdig war, erschien wie eine Lüge. Denn er war es noch nicht wirklich lange. Immerhin hatte er geschrieben, dass er kein Unwürdiger war, oder war dies einfach anders gemeint?
Ganz sicher war ich mir in der Vermutung nämlich nicht.
Doch würde es irgendetwas an meiner Beziehung zu meinem verschwundenen besten Freund ändern, wenn er mich belogen hätte. Denn dies schien er wahrhaftig mehrfach getan zu haben. Für mich war er immer der lieben alte Mann gewesen, welcher sich mit seinem Leben als Bewohner des Nordviertels schon seit Jahren abgefunden hatte und insgesamt keine Geheimnisse besaß. Aber wie häufig hatte er mir gesagt, dass man ein Buch niemals nach seinem Einband noch nach den ersten fünfzig Seiten bewerten solle.
Noch nie war ich so darauf versessen möglichst schnell das Essen beenden, den Esstisch verlassen und wieder in mein Zimmer zurück gehen zu können wie an diesem Abend. Auch meine Eltern schienen ebenfalls zu bemerken, dass ich auf heißen Kohlen saß und mich nicht wirklich an dem Tischgespräch beteiligte.
Irgendwann klingelte es an unserer Tür und kurz darauf trat Alexander an den Tisch. Es war langsam Zeit für die abendlichen Nachrichten aus unserer Stadt. Wie jeden Abend setzten wir uns für diese vor unseren Fernseher und auch wenn ich nicht die gerinste Lust verspürte, noch länger Zeit mit meinem Familie zu verbrigen, war mir gleichzeitig bewusst, dass ich erst nach den Nachrichten den Raum verlassen dürfte.
Doch im Nachhinein war ich sogar ziemlich froh über die Strenge meines Vaters.
Denn die Nachrichten waren nur zu Beginn uninteressant. Dann aber wurde ein Video gezeigt, von der gestrigen Nacht. Man erkannte nicht besonders viel, doch ich wusste dennoch direkt, was sich dort vor den Augen jedes Bewohners der Stadt gerade abspielte. Man konnte bei genauem Hinschauen sogar Miles und mich erkennen. Wir waren scheinbar gefilmt worden auf unserer Flucht. Gerade rannten wir auf dem Video von unseren Verfolgern weg. Das Video dauerte nicht besonders lange, doch es reichte meinem Vater um mich zu erkennen und mich in ziemlich große Schwierigkeiten zu bringen. Dies zeigte mir der Blick meines Vaters.
Unter dem abgespielten Video stand in großen blauen Buchstaben die Frage, ob  irgendwer diese zwei jungen Unwürdigen erkennen würde, da sie gegen ihr Recht verstoßen haben und nun von den Wächtern gesucht wurden. Ich wurde gesucht! Ganz offiziell wurde ich als unwürdig bezeichnet!
Doch eigentlich hatte ich Glück, denn scheinbar erkannten die Wächter weder Miles noch mich und somit war die Chance, dass niemand mich als das Mädchen dieses Videos erkennen würde, ziemlich gut. Denn ich glaubte nicht, dass meine eigene Familie mich einfach so ausliefern würde. Vor allem als meine Mutter dann sprach, war ich mir sogar mehr als nur ziemlich sicher, dass dies nicht geschehen würde. "Also wirklich diese Unwürdigen werden auch immer unverschämter. Dabei sind diese Zwei eindeutig noch so jung und haben noch ihr ganzes Leben vor sich. In diesem Alter schon offiziell unwürdig zu sein. Eine Schande ist das!"
Alexander und Annabeth stimmten ihr ohne Widerworte zu, doch in mir begann es zu brodeln. "Was meinst du damit, Mutter?"
"Ich will damit sagen, dass ich es verstehen, wenn man als Senior in seinem langen Leben irgendwann einen kleinen Fehler begannen hat und deswegen unwürdig ist, doch diese jungen Menschen kann ich einfach nicht verstehen. Die hatten immerhin nicht mal genügend Zeit, um wirklich etwas richtig zu machen und schon scheinen sie nur Dinge falsch zu machen. Das meine ich."
"Du sagst also, dass es eine Schande ist, wenn man als junger Mensch schon im Nordviertel lebt. Was sagst du denn dazu, dass die Meisten der jungen Menschen schon seit ihrer Kindheit dort leben und nie die Chance hatten unser Gesellschaft von ihrer Würdigkeit zu beweisen, da man sie schon als Kleinkinder als Unwürdige angestempelt hatte. Was sagst du dazu, Mutter?!" meine Stimme hatte ich bis zum Ende hin erhoben, sodass ich schlussendlich das letzte Wort in das Gesicht der Frau vor mir schrie.
Mit wütenden Schritten stapfte ich hoch in mein Zimmer und hörte nur wie meine Mutter mir hinterher rief, dass dieses Verhalten Konsequenzen haben würde, doch mir war dies alles egal. Ich wollte nur noch das Tagebuch von Fabian wieder aufschlagen und weiterlesen.


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