Kapitel 23

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Die Kiste blieb länger dort stehen. Doch jeden Tag berührte ich sie mindestens ein Mal und war versucht sie zu öffnen, aber ich schaffte es jedes Mal sie wieder weg zu stellen. Obwohl dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn eigentlich war es eher so, dass ich es jedes Mal dann schließlich nicht über mich bringe die Kiste zu öffnen. Somit war es mehr eine Schwäche als eine Stärke von mir. Nur war ich niemand, der sich gerne seine eigene Schwäche eingesteht. Ich war eine Person, die versuchte niemals in der Öffentlichkeit zu weinen und auch sonst möglichst wenig Schwäche zeigen zu versuchte.
Der Moment während der Rede des Präsidenten war wirklich eine Ausnahme und auch mein Zusammenbrechen vor Miles war etwas, was ich möglichst nie wieder zulassen wollte. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht wirklich, warum ich diese Gefühle als Schwäche betrachtete und warum ich es als das Schlimmste emfand diese Schwäche auch nur meiner Familie zu zeigen. Vielleicht wusste ich es, denn ich vermutete, dass es einfach zu unserer Gesellschaft gehörte. Immerhin kannte ich, wenn ich mal darüber nachdachte, eigentlich Keinen, der nicht genauso dachte wie ich.
Obwohl ich kannte jemanden, nur konnte ich zu dieser Person sagen, dass sie nicht ein Teil unserer Gesellschaft war. Die Person von der ich sprach war Miles. Irgendwoher wusste ich, dass er sich nicht für soetwas schämte und Fabian war auch jemand, den ich schon mehrmals echt erlebt hatte.
So hatte ich es damals in meinen Gedanken genannt, als ich ihn zum allerersten Mal von Herzen lachen gehört hatte und auch als er mir von seiner Vergangenheit erzählte. In diesem Moment war er echt, er war er und zwar zu hundert Prozent.
Doch war ich damit nicht echt. Spielte ich anderen vielleicht immer etwas vor? War Schwäche etwas schlechtes? Und was war alles eine Schwäche? Ich wusste es nicht. Woher sollte ich es auch wissen?
Soetwas lernte man nicht in der Schule und wenn es wirklich ein Problem unserer Gesellschaft war, konnte ich mir auch vorstellen, dass auch der Rest meiner Familie solche Fragen nicht beantworten konnte. War dies schlecht? War dies ein Zeichen dafür, dass unser Paradies nicht so paradiesisch war, wie es hätte sein müsste? Oder zeigte es wie falsch unser Denken war?
Wenn wir einen Fehler in unseren Köpfen seit Anbeginn an zuließen, machten wir möglicherweise auch in anderen Teilen den ein oder anderen Fehler. Aber war die geringe Anzahl an Fehlern und das Verlangen möglichst keinen Fehler zu begehen nicht der Grund dahinter, dass unsere Gesellschaft würdig genug war in unserem Paradies zu leben? Wir strebten nach unser Perfektion, doch wie konnte man sich als würdig bezeichnen, wenn wir tagtäglich Fehler zuließen und mit ihnen lebten.
Könnte es möglich sein, dass der einzige Unterschied zwischen uns und den Unwürdigen ihre Tat und gar nicht ihre falsche Art zu denken war? Mein ganzes Leben habe ich schließlich stets gedacht, dass die Unwürdigen von Grund auf schrecklich waren und dass ihr größter Fehler in ihrer falschen Art zu denken lag. Nur fiel mir in letzter Zeit immer wieder auf, dass ich genauso war. Ich dachte unwürdig. Konnte es sein das Unwürdigkeit ansteckend war?
Schließlich dachte ich erst seit meiner ersten Begegnung mit Miles auf diese falsche Art und Weise. Doch dies war nicht möglich, oder?
Sonst müsste Würdigkeit auch abfärben, zumindest wäre dies der logischste Rückschluss.
Aber jeder von uns kam tagtäglich mit Unwürdigen in Kontakt, deswegen war es unmöglich, dass Unwürdigkeit auf andere Würdige abfärbte. Ich erschruk mich manchmal wirklich selbst allein mit der Hilfe meiner Gedanken.
Etwas, was mir vorher vollkommen klar und logisch erschien, konnte mich mal vollständig aus meiner Bahn werfen. Früher war ich nie ein Mensch gewesen, der so viel nachdachte, aber in letzter Zeit verbrachte ich einen größteil meiner Zeit mit meinen eigenen Gedanken.
Vor allem seitdem ich mich aus Miles Wohnung geschlichen hatte, suchten mich meine eigenen Gedanken immer wieder heim. Wo ich früher noch das Schöne und Fantastische unserer Gesellschaft versteckt gesehen hatte, fand ich etwas, was ich nur kritisch betrachten konnte. Selbst wenn ich an unsere fünf heiligen Regeln dachte, betrachtete ich sie nun eher kritisch. Dass wir nicht stehlen durften und dass wir unsere Mitmenschen lieben sollten, erschien mir logisch, aber was war falsch daran nachzufragen und sollten wir wiklich blind das tun, was unsere Vorgesetzten verlangten. Doch auch die letzte Regel wief bei mir mehr Fragen als Antworten auf. Was bedeute es denn genau das Paradies zu verehren? Gehörte dazu nur solche Dinge, wie schmeiß deinen Müll richtig weg und trenn ihn, oder noch andere Dinge. Nur welche anderen Dinge fielen unter diese Verodnung?
"Was hat Miles wohl getan?" flüsterte ich vor mir in die Luft. Ganz leise, sodass nur ich die Frage hören konnte, denn ich hatte noch eine Sache, an die ich neben den gesellschaftkritischen Fragen, dachte und diese Sache war ungefähr in meinem Alter und sah leider verboten gut aus.
Seine Augen konnte ich einfach nicht vergessen. Weder den Funken noch ihr Aussehen schaffte ich aus meine Gedanken zu verbrennen. So wunderschön und so ausdrucksstark.
Aber auch seine einzigartige Person hatte sich in meinen Gedanken verankert und so wanderten meine Gedanken auch immer wieder zu ihm. Ich vermisste ihn. Warum wusste ich nicht und auch nicht wie ich ihn vermissen konnte? Doch ich vermisste ihn, ich vermisste seine Wärme, seine Stärke, das Abenteuer, was er mir mit seiner Anwesenheit versprach, aber auch die Sicherheit, die ich stets in seiner Nähe verspürte.
Seufzend ließ ich mich gegen einen der Bücherregale sinken. Seit Tagen lebte ich nun schon in meinem altgewohnten Trott. Nicht besonderes passierte, alles blieb ganz normal und langsam fing ich an mich zu langweilen. Ich wollte etwas erleben, denn nun, wo ich schon so viel gesehen und erlebt hatte, erschien mir mein gewöhnliches Leben einfach nur langweilig. Auch die Aussicht auf meinen Studiumsbeginn ließ weder mein Herz höher schlagen noch sonst ein Zeichen der Aufregung, die ich fühlen sollte und die ich vor kurzem noch gespürt hatte, fühlen.
Ich hatte es aufgegeben zu versuchen mich wieder in mein altes Leben zu zwängen. Im Gegenteil ich wusste nun, dass sich nicht nur mein Leben sondern auch ich mich verändert hatte und es deswegen eher Zeit war mein Leben mir anzupassen. Zwar wusste ich noch nicht, was ich mir nun unter einem passenden Leben vorstellte, aber vielleicht würde ich dies noch herraus finden.
In diesem Moment wusste ich noch nicht, dass sich in dem Buch in meinem Rücken der erste Schritt zu dem gewünschten Leben lag.

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