Kapitel 45

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Nach dem Ende des Wochenendes war mein Ausgehverbot zumindest für meine Arbeitszeit in der Bibliothek aufgehoben. Somit konnte ich mich immerhin ein paar Stunden nicht mehr wie im Gefängnis fühlen. Dies heiterte meine Laune aber durchaus nicht unbedingt auf. Ich kaute einfach noch viel zu sehr an dem Video herum. Mein Onkel und ich hatten beide die Wahrheit hinter der Prügelei erkannt, doch genauso wusste ich, dass wir damit zu den ganz wenigen Bürgern der Stadt gehörten. Es war nicht richtig, dass Miles und seinen Freunden nun deswegen sonst etwas drohte. Dabei hatten die Präsidenten sicherlich das vollkommene Video gesehen und somit wussten auch sie von dem Vergehen des Wächters.
Aber mehr als hoffen, dass er mindestens auch bestraft worden war, konnte ich leider auch nicht machen. Ich konnte Miles nicht einmal irgendwie helfen. Alles, was ich machen konnte, war hoffen und warten. Die ganze letzte Woche habe ich schon mit warten verbracht, es war also nur verständlich, dass meine Gedanken mich nun langsam umbrachten. Immer wieder malte ich mir aus, was mit ihm geschehen könnte. Doch ich wollte eigentlich wirklich nicht über die ganzen Möglichkeiten nachdenken. Das hatte keinen Sinn und ich fühlte mich schlussendlich einfach nur miserabel.
Am Montag freute ich zum ersten Mal wieder auf meine Arbeit, denn ich wünschte mir, dass mich die Betätigung möglicherweise von meinen Gedanken teilweise ablenken würde.
Meine lieben Mitarbeiterinnen begrüßten mich liebevoll und fragten mich direkt, wie es mir denn ginge. Verwirrt beantwortete ich ihnen die Frage. Warum sollte es mir auch nicht gut gehen, abgesehen davon, dass ich vor Langeweile fast gestorben bin. Dann aber ging mir ein Licht auf.
Meine Mutter hatte ihnen wahrscheinlich gesagt, dass ich krank wäre und deswegen eine Woche lang nicht zu meiner Arbeit kommen könnte. Daraus hatten sie geschlossen, dass ich wirklich etwas Ernstes hatte und wohl im Krankenhaus gewesen sein musste. Immerhin fehlte selten jemand so lange aufgrund einer Krankheit. Die Medizin war nicht umsonst schon so weit vorgeschritten, dass wir selbst die meisten Tumore heilen konnten. Natürlich hatten unsere Ärzte bei den schon zu weit fortgeschrittenen Krebsarten auch schlussendlich keine Chance mehr, aber dafür gab es schließlich die halbjährigen Kontrolluntersuchungen, zu denen jeder Bürger stets zu gehen hatte.
Eine Woche zu fehlen kam für meine Mitarbeiter also mit einer Operation gleich. Früher war dies bestimmt anders noch gewesen. Damals kam es wohl häufiger vor, dass man auch mal aufgrund einer Erkältung für ein paar Tage fehlte.
In dieser Hinsicht hatte sich das Leben von uns auf jeden Fall verbessert. Doch die Lebenslänge hatte sich dadurch irgendwie nicht wirklich verlängert. Der älteste Mensch bei uns war achtzig Jahre alt. Meine Großmutter ist gerade mal siebzig geworden. Noch immer traf mich der Gedanke an ihren Tod vor dreieinhalb Jahren ziemlich. Es war so unvorstellbar gewesen, dass man ihr nicht hatte helfen können, doch ich selbst hatte es damals noch nicht verändern können.
Damals hatte ich mich zu meinem Medizinstudium entschieden. Dies würde theoretisch auch schon in zwei Wochen beginnen. Aber ich war mir auf einmal vollkommen unsicher, ob ich es überhaupt noch wollte. Mein Bedürfnis Menschen zu helfen war zwar nicht von dem einen Tag auf den anderen Tag plötzlich verschwunden, dennoch kam mir das Studium nicht mehr wie der richtige Weg vor.
Nur würde ich es wohl erst einmal anfangen müssen. Allein das Gespräch mit meinen Eltern darüber, dass ich erst im Wintersemester anfangen könnte, hatte mich persönlich an meine Grenzen gebracht.
Wie fremd mir meine Eltern seit meiner ersten Erfahrung der Ungerechtigkeit in dieser Stadt doch geworden waren.
Natürlich liebte ich sie noch, ich liebte sie beide noch abgöttisch, aber ich hatte einfach das Gefühl, dass sie mich nicht mehr richtig verstanden. Denn nicht nur sie sind mir fremd geworden, auch ich bin ihnen logischerweise fremd geworden. Es war irgendwie kein schöner Gedanke. Zwar war ich immer ein kleines bisschen das schwarze Schaf unserer kleinen Familie gewesen, doch ich liebte sie dennoch und ich wusste, dass sie mich auch liebten, auch wenn ich nicht zu einhundert Prozent wie sie war.
Diese Gedanken begleiteten mich durch die Gänge der Bücherregale, während ich immer mal wieder hier und dort ein Buch zurück in das ein oder andere Regal stellte. Die Stunden verflogen und ich hatte recht behalten. Meine Arbeit hatte mich am zu vielen Nachdenken gehindert. Erst als meine Schicht zu Ende war, fiel mir Miles wieder ein. Doch direkt kamen auch meine Ängste wieder mit diesem Gedanken wieder hoch. Das Bild von ihm, umringt von Wächtern, brannte sich in meinen Kopf.
Ich versuchte mehrfach es wieder loszuwerden, indem ich meinen Kopf hin und her schüttelte. Es funktionierte einfach nicht. Miles Blick blieb dar. Seine Hilflosigkeit verschwand nicht aus meinen Gedanken.
"Was schaust du so betrübt, meine holde Dame?" flüsterte mir eine sehr bekannte Stimme in mein Ohr.
Dennoch erschrak ich mich halb zu Tode. Mit Schwung drehte ich mich zu Miles um und zog ihn dann schnell hinter mir her in eine Nebenstraße, welche nicht so sehr gefüllt war mit Menschen, welche den Wächtern seinen Aufenthaltsort verraten konnten. Mein Verhalten verwunderte ihn sichtlich, doch ich reagierte nicht auf seine Fragen.
"Was machts du hier? Hast du die Nachrichten etwa nicht gesehen, die Sondermeldung?"
"Bist du etwa besorgt um mich?"
Wütend nickte ich. Natürlich machte ich mir Sorgen um ihn. Was dachte er sich dabei einfach durch die Stadt zu schlendern, als würde er nicht von der ganzen Stadt gesucht werden.
"Keine Angst mir passiert schon nichts. Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, im Gegensatz zu dir wie es mir scheint. Du warst verschwunden." lenkte er das Gesprächsthema geschickt auf mich um.
Möglichst kurz versuchte ich zu erklären, was letzte Woche bei mir Zuhause los war. Er lachte über die Strafe meines Vaters. Als ob sein Verhalten lächerlich gewesen war, lachte er es aus. Doch aus der Sicht meines Vaters oder meiner beiden Eltern war es nur eine schlüssige Reaktion gewesen.
"Ich muss nach Hause, sonst wird meine Ausgehsperre wieder verlängert." meckerte ich den lachenden Idioten vor mir an.
Sein Verhalten hatte mich wütend gemacht. Ich machte mir solche Sorgen um ihn und ihn juckte es scheinbar gar nicht ob er festgenommen wurde. Also drehte ich mich einfach um und ging wieder zur Hauptstraße. Mir war bewusst, dass er mir folgte, aber mich interessierte es nicht wirklich. Er war dumm und ein Idiot.
Nach  fünfzig Metern hörte ich, wie es hinter mir zu einem Getümmel kam. Laute Rufe schallten zu mir hin. Zwei weitere Schritte schaffte ich noch zu gehen, bevor mich die Angst packte und ich mich umdrehen musste. Eine Gruppe Wächter standen mit dem Rücken zu mir.
Meine Füße klatschten auf den Asphalt. Doch auch von nahem konnte ich nicht zwischen den Männern hindurch sehen. Schnell schlüpfte ich in eine Gasse und kletterte dort an dem Zaun hoch. Dann kletterte ich über die Regenrinne die Wand hinauf, solange bis ich einen Balkon erreichte.
Nun sah ich schon viel besser. Meine Finger flogen vor meinen Mund, um einen Aufschrei zu verhindern. Umringt von den Männern stand dort Miles mit einem seiner Freunde und einem Mädchen. Das Mädchen klammerte sich an den Kumpel von Miles  und hatte sichtlich Todesangst. Immer wieder strich er ihr über den Rücken, um sie zu beruhigen.
Dieses Mächen hätte ich sein können, wurde mir auf einmal bewusst. Mein Blick schnellte zu Miles und seiner verfing sich mit meinem. Liebevoll schaute er mich an und lächelte wehmütig.
Seine Lippen formten einen kleinen Satz, bevor er weggeschoben wurde: "Du hattest Recht, Kleine."
Träne flossen über meine Wangen und ein Schluchzer entkam mir. Meine Angst war Wirklichkeit geworden.

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